Robert Harris „Vaterland“ wird am Großen Haus zum skurrilen Suchspiel
Die Theaterversion von Robert Harris‘ Roman „Vaterland“ am Staatsschauspiel Dresden (Fotos: Sebastian Hoppe) beginnt vielversprechend: Verzerrte Fratzen erzählen verzerrte Geschichtsfetzen. Die Story führt uns ins Jahr 1964 und lässt ein erschreckendes Szenario lebendig werden: Hitler-Deutschland ist es gelungen, Moskau einzunehmen und den Zweiten Weltkrieg zu gewinnen. Wir befinden uns hier also in einem großdeutschen Reich, das im Osten bis an den Ural reicht und in Westeuropa den Ton angibt. Soeben hat sich US-Präsident Kennedy zum versöhnlichen Staatsbesuch angekündigt – doch dann wird eine Leiche entdeckt.
Als der britische Schriftsteller und Journalist Robert Harris 1992 sein weltumspannendes Gedankenexperiment „Vaterland“ veröffentlichte, stürmte er sofort die Bestsellerlisten in den USA und Groß Britannien, während die deutschen Verlage zunächst zurückhaltend reagierten. In der Bühnenfassung von Claudia Bauer, Lüder Wilcke und Jörg Bochow wird die komplexe Erzählung nun am Dresdner Schauspielhaus lebendig:
Die Reisegruppe aus Fratzen entert die weite Bühnenlandschaft, in deren Mitte ein großer düsterer Würfel installiert ist. Ahmad Mesgarha beschert gleich zu Beginn den Höhepunkt des Abends, wenn er als schrullige Stadtführerin die Gigantomanie großdeutscher Nachkriegsarchitektur beschwört und anschließend leise säuselnd Zarah Leanders „Ich steh‘ im Regen“ anstimmt. Da wird das Drama zur Komödie, der Ernst in skurrile Ironie verwandelt. Doch kurz darauf ändert sich die Szene, eine bedrohliche Soundcollage macht das Unheil wie im Film spürbar. Die Klänge nehmen einen zentralen Teil des Abends ein, egal ob Beethovens „Mondscheinsonate“ – live vorgetragen am Klavier von Thomas Mahn – oder die eingängigen Schlagersounds der 1960er Jahre, die Kompositionen und das Sounddesign von Robert Lippok zählen ebenso wie das klare, eindrucksvolle Bühnenbild von Andreas Auerbach zu den Stärken dieser Inszenierung.
Regisseurin Claudia Bauer versucht Harris historisches Gedankenspiel zunächst mit Skurrilität zu erfassen. Sie malt bunte Bilder einer sonst grauen Zeit und vertauscht bewusst Geschlechterrollen. So wird die Hauptfigur des Kriminalkommissars Xaver März von Nadja Stübiger gegeben, die den findigen Polizisten in seiner Entwicklung vom braven Staatsmann hin zum geächteten Verräter meisterlich und packend auf die Bühne bringt. Ganz famos ist auch Yassin Trabelsi, der der US-Journalistin Charlotte Maguire neben einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft weibliche Klasse und Eleganz verleiht.
Die Welt steht Kopf in diesem Stück. Xaver ist offenbar geschieden und versucht zu seinem Sohn Paule dennoch eine Beziehung herzustellen. Paule wiederum wird von Kaya Loewe als ein Kind der Propaganda gezeigt – eines, das die Parolen des Reiches ergeben nachplappert und zum ersten Mal flammende Begeisterung an den Tag legt, als es mit seinen Zinnfiguren Krieg spielen darf.
Ungefragt nimmt Xaver die Ermittlung im Mordfall auf und seinen Kollegen Max Jäger ins Schlepptau. Betty Freudenberg gibt Jäger als verzagten Zeitgenossen ohne Meinung, ein Mitläufer par excellence. Doch gemeinsam mit Charlotte Maguire kommt März den Geheimnissen des Staates immer weiter auf die Spur, in der vollen Überzeugung, das Richtige zu tun.
Regisseurin Claudia Bauer erzählt die Geschichte des Romans eher wie in einem dieser schrägen Tatort-Krimis. Undurchsichtig und voller verwirrender Brutalitäten. Die Adaption für die Bühne trägt dabei kaum. Beständig verstricken sich die Handlungsfäden in Details, die von der Regie genüsslich ausgeleuchtet werden. Xaver März wird anfangs von Bühlers Hund gejagt, später von Odilo Globocnik (Viktor Tremmel ist hier augenscheinlich fürs Brutale da) minutenlang gefoltert, um schließlich freigelassen zu werden. Ein Akt nationalsozialistischer Selbstjustiz?
Viele Fragen bleiben offen. Das Gedankenexperiment gerät bald aus dem Blick. Da hilft auch die kluge Kombi aus Bühnenspiel und Videoprojektion nicht, welche uns immer wieder ins Innere des schwarzen Würfels, in die Stuben und Geheimnisse dieser Diktatur, schauen lässt. Der Blick hinter die Gardine, die Suche nach Wahrheit entgleitet hinter bunten Bildern, die im Ganzen allzu willkürlich aneinandergereiht scheinen. Mit Ideen wie einer Szene, die Charlotte rauchend in der Badewanne zeigt, sucht die Regie der komplexen Erzählung Kurzweiligkeit einzuhauchen, verliert dabei jedoch den roten Faden. Wer das Buch nicht kennt, ist verloren in der grauen Landschaft von Germania, lost in der Ruhmeshalle. War nicht eben noch der US-Präsident angekündigt? Schon befinden wir uns vor dem Schließfach einer Schweizer Bank, schauen Xaver und Charlotte zu, wie sie die Büchse der Pandora öffnen, hören Geschichten aus den Konzentrationslagern – und sehen Xavers Blut strömen. Tatort oder historisches Gedankenexperiment? Das ist hier die Frage. Die Antwort muss wohl jeder für sich selber finden.
Info: „Vaterland“ am Staatsschauspiel Dresden, nächste Vorstellungen am 3. und 10. März, 7. April 2023