„Der Turm“ weckt Diskussionen und Erinnerungen
Viel ist in den vergangenen zwei Jahren geschrieben und diskutiert worden um einen Roman, der Dresden und die letzten sieben Jahre der DDR erzählt: Uwe Tellkamps „Der Turm“. Das 945-seitige Werk hat bei vielen Erinnerungen geweckt, aber auch längst verflogene Wut wieder aufgewühlt. Am 24. September eroberte die Bühnenfassung des Romans von Jens Groß und Armin Petras nun das Dresdner Schauspielhaus. Jene, die den 2008 erschienen Roman gelesen haben, sind nun interessiert an der dramatischen Umsetzung, die anderen wollen sich in der auf drei Stunden komprimierten Kurzfassung endlich selbst ein Bild machen von dem Werk, was Tellkamp zahlreiche Literaturpreise und dem Weißen Hirsch seit 2008 etliche neugierige Touristen beschert hat.
Selten ist das Schauspielhaus nach einer Premiere so ausverkauft gewesen wie an diesem 30. September 2010. Noch kurz vor Vorstellungsbeginn kommen Menschen an die Kasse und kaufen eine Eintrittskarte. Zum Vorgespräch mit dem Regisseur drängen sich die Zuschauer im oberen Foyer. Es ist wohl vor allem die Neugier an der Umsetzung eines Wendestückes, aber auch die Liebe zur Heimatstadt, die an diesem Abend viele ins Theater treibt. – Regisseur Wolfgang Engel habe die Atmosphäre des Romans auf der Bühne erhalten wollen. Die Theaterfassung ist daher nah am Text konzipiert, gibt zahlreiche Passagen des Romans wortwörtlich wieder. Einzig die Chronologie des fast 1000-seitigen Werkes wurde in der dreistündigen Bühnenfassung aufgelöst. Die sieben Romanjahre sind hier zu einem Punkt gebündelt worden. Das irritiert zu Anfang zumindest jene, die das Buch gelesen haben.
Dresden – und auch das überrascht viele – spielt in der Bühnenfassung dabei kaum eine Rolle. Alle Akzente wurden hier auf die politischen Hintergünde und das Fortbestehen eines Bürgertums in einer Diktatur gelegt. Lediglich zu Beginn des Stücks spielt Benjamin Pauquet als Christian Hoffmann mit dem Dresdner Publikum, das natürlich genau weiß, welches berühmte Restaurant oberhalb der Standseilbahn liegt. Und obwohl hier etwas Dresdner Atmosphäre mitschwingt, wirkt der Beginn des Stückes allzu überbordet vom Text und der Vielzahl der Handlungsstränge. Das Publikum verzeiht’s, denn es liebt seine Stadt und wo viel Tellkamp ist, da schimmert auch etwas Dresden durch.
Wie der Roman spielt auch das Theater auf mehreren Ebenen, allerdings fehlt anfangs noch der rote Handlungsfaden – allein das Thema baut die Spannung auf. Wer den Roman nicht kennt, der dürfte sich zunächst schwer damit tun, in den Theater-Turm hineinzukommen. Doch Tempo kommt – und auch hier bleibt das Staatsschauspiel Tellkamp treu – erst nach und nach auf, mit dem Heranrücken des Höhepunktes und dem wachsenden Aufbegehren der Figuren gegen den Staat, in dem sie leben. Musik setzt Kontrapunkte ohne störend zu sein und die Kaminski-Zwillinge werden plötzlich zu Stasi-Spitzeln – da steckt Deutung drin und das nicht zu knapp. Man würde sich manchmal fast etwas mehr davon wünschen.
Die beiden Schauplätze Ostrom und der Turm mischen sich im monumentalen Bühnenbild Olaf Altmanns. Das ist gewagt, aber nicht völlig abwegig. Schließlich wird hier der Fokus auf die Gesellschaft gelegt. Auch als Romankenner muss man bereits während der ersten Halbzeit den Hut ziehen vor der Leistung, die hinter dieser Kürzung steckt. Unterschiedlichste Textpassagen, so zeigt sich nun, sind in der Bühnenfassung aus ihrer ursprünglichen Chronologie gerissen und zu einem dennoch funktionierenden Ganzen neu zusammen gesetzt worden.
Die Schauspieler liefern eine beachtliche Leistung. Vor allem Christine Hoppe gibt sich trefflich als gebeutelte Schriftstellerin Judith Schevola. Mit ihr ist eine von Tellkamps Figuren tatsächlich zum Leben erwacht. Benjamin Pauquet erscheint als Christian Hoffmann am Beginn jedoch noch etwas zu selbstbewusst, Holger Hübner ist ein eher blasser Richard Hoffmann und der Lektor Meno Rohde (Benjamin Höppner) bekommt auf der Bühne einen Schuss zu viel Dominanz. Dafür mimt Hannelore Koch die Figur der Anne durchweg überzeugend. Witz bringt Philipp Lux in der Rolle des Ingenieur Stahl sowie als missratener Intellektuellensohn Albin Eschschloraque auf die Bühne.
Die Pause gibt dem Publikum nach 1,5 Stunden endlich Raum zum Diskutieren. Manche sind enttäuscht, andere beeindruckt. Viele erinnern sich plötzlich daran, wie das war vor 20 Jahren, in Dresden. Nur wenige gehen. In der zweiten Hälfte geht es dann Schlag auf Schlag. Erst jetzt legt sich der Fokus etwas mehr auf den jugendlichen Protagonisten Christian. Armeezeit, Verbandsausschluss Schevolas, Walpurgisnacht und große Revolution. Der Tellkamp’sche Doppelpunkt jedoch fehlt am Schluss und das macht das Ende des Stückes ein wenig zu düster und traurig. Wo ist hier die Hoffnung geblieben? Engels Inszenierung schließt in bloßer rasender Wut und Verzweiflung. War so wirklich das Ende der DDR?
Bis auf dieses Manko wird das Theaterstück seiner preisgekrönten Romanvorlage jedoch durch und durch gerecht. Obwohl der Text das Spiel oft deutlich dominiert, sollten auch Nichtleser zurecht kommen. Besonders gut gelungen ist der Inszenierung die Darstellung der Figuren als Charaktere ganz unterschiedlicher Couleur. Im Theater-Turm – und das merkt man – liegt Herzblut, das Herzblut der Dresdner und der DDR-Bürger sowie das Herzblut eines gemischten Ensembles aller Altersstufen. Trotz kleiner Schwachstellen ist mit dem „Turm“ ein Theaterstück entstanden, dessen Leistung vor allem darin liegt, dass es mit dem Publikum, mit den Erinnerungen, Sehnsüchten und Emotionen von damals und heute zu spielen vermag. Ein Stück, dass Diskussionen hervorruft, ist ein gutes Stück, sagt man. „Der Turm“ ist ein solches Stück.
Dresdner Staatsschauspiel „Der Turm“ wieder am 13.10., 27.10., 31.10., 16.11. und 22.11. 2010