„Faust I“ am Staatsschauspiel – eine Kritik
Es war ein Experiment: Der schwedische Regisseur Linus Tunström inszeniert Goethes „Faust, der Tragödie erster Teil“ am Staatsschauspiel Dresden – und kürzt das allerheiligste Stück der deutschen Theaterliteratur dabei auch noch auf eine zweistündige Version ohne Pause zusammen. Die meisten Nebenfiguren fallen in seiner Inszenierung raus, ebenso wie die Zueignung und das Vorspiel auf dem Theater. Das Ganze beginnt im Krankenhaus statt in der Studierstube. Hier kämpfen dafür gleich vier Fäuste mit ihren Zweifeln, dem Schwachsein, den Unzulänglichkeiten ihres Lebens. Ach ja, und Gretchen ist nicht 14, sondern Anfang 40, Putzfrau in eben jenem Klinikum und Mutter einer kleinen Tochter.
So verrückt das alles klingen mag: Die Grundidee des Ganzen ist klug gedacht. Da ist ein Bühnenbild (Esther Bialas), das eine sterile Klinikatmosphäre zeigt – mit OP-Saal, Warteraum und Zigarettenautomat –, und in dem erst einmal so gar nichts an „Faust“ erinnert. Hier ringt eine Ärztin (Hannelore Koch) mit dem Leben eines Patienten, während ein Besucher (Torsten Ranft) wohl um einen lieben Menschen weint, ein verzweifelter Patient (Peter Pagel) sich fragt, was er hier soll und ein Verletzter im Wartemodus (Tom Quaas) auf Hilfe hofft. Sie alle sind an einem Punkt, an dem auch Goethes „Faust“ zu Beginn des Dramas steht: reif, aber weit entfernt von Erkenntnis, Reichtum, Glück oder gar Zufriedenheit.
Kollektive Hilflosigkeit als Ausgangspunkt
Fausts Anfangsmonolog verteilt und verschränkt sich nun in diesen vier Stimmen. Dazwischen putzt und flimmert die gründliche Putzfrau Grete durch den sterilen Raum (auch sie könnte eigentlich eine Art Faustfigur sein). Es verspricht spannend zu werden. Tunström nimmt also die Aussichtslosigkeit, die Sinnkrise als Ausgangspunkt seiner Inszenierung. Er zeigt jedoch statt der individuellen eine kollektive Hilflosigkeit, in der seine „Fäuste“ allesamt als ausgelaugte Figuren erscheinen. Ihre simultanen Selbstmordversuche bleiben erfolglos. Selbst die mephistophelischen Pfleger (Rosa Enskat und Jan Maak) können diesem Zustand nur bedingt Abhilfe schaffen. Die Allegorie einer kranken Gesellschaft, grandios soweit.
Doch genau an dieser Stelle zeigen sich auch die ersten Probleme der Inszenierung: Erscheint schon die Beschwörung des Erdgeists in der Krankenhausumgebung irgendwie krude, gerät das Regiekonzept mit dem Auftritt des doppelten Mephisto dann doch ganz schön aus den Fugen. Die raffinierte Teufelsmagie will partout nicht so richtig in die realistische Klinikumgebung passen. Zudem driften Szenen wie Auerbachs Keller als Krankenhauskaraoke oder die Hexenküche mit dem nackten Jan Maak als Helena schon sehr in Klamauk ab. Die Verbindung der mystischen Hexenwelt mit dem steril realistischen Krankenhausdämmerzustand ist schwer zu finden. Und Goethes eigentlich starker Text will plötzlich nicht mehr so recht zünden.
Christine Hoppe berührt als reifes Gretchen
Markant im Reigen der vier Fäuste tritt vor allem Hannelore Koch als frustrierte Ärztin auf, die sich als Medizinerin mit großem Herz und kleinem Handlungsspielraum entpuppt. Torsten Ranft hingegen ist eher der ewige Träumer, er stellt jene Art überkandidelten Spinners da, der zwar Management und Artdirecting studierte, aber nie am Ziel seiner Träume ankam. Tom Quaas scheint als der aalglatte, aber verletzte Businessmann an diesem Abend ungewohnt zurückhaltend und Peter Pagel gibt den Faust als ewigen Patienten, Philosoph und Theologe, dessen Glück später in einer peinlichen Begegnung mit Gretchen kulminiert, bei der sie ihm läppisch ein Törtchen auf die Brille drückt.
Jenes Gretchen verwandelt Christine Hoppe jedoch in eine der stärksten, mitreißendsten Figuren des Stücks (neben Rosa Enskats Mephisto). Sie spielt anfangs noch die herrlich ruppige Putze, eine gereifte Frau, früh schwanger geworden, Mutter. Schließlich sucht sie ihr Glück hier mit allen vier Fäusten – wird verführt, von ihrem klar strukturieren, geregelten Leben abgelenkt, treibt für die Liebe ihr Kind in den Tod und überlebt das Ganze auch noch (blutverschmiert und verzweifelt). Das gelingt ihr mit so viel Feingefühl, dass man dann sogar richtig sauer wird, als in Gretchens Trauer um das Kind hinein plötzlich ein riesiges Bandinstrumentarium auf die Bühne gekarrt wird und die Walpurgisnacht beginnt.
Kind und Patient sind Tunströms stumme Nebenrollen
Jetzt können die Fäuste und Mephistos Pflegepersonal noch einmal richtig aufdrehen. Besonders Rosa Enskat überzeugt von der ersten Minute als zappliger, flippiger Teufel mit viel Schalk im Nacken und jeder Menge Energie zur Verführung. Dem kann Jan Maak nicht mehr allzu viel entgegensetzen, er erscheint bis auf ein paar derb übertriebene Momente in Hexenküche und am Mikro eher als stiller Fädenzieher. Fast schon witzig ist dagegen wiederum die von Tunström neu erfundene Rolle des Patienten, den Max Rothbart als quasi stillen, aber herrlich gruseligen Statisten gibt. Die kleine Eva Lotta Taggesell harrt über weite Strecken tapfer am rechten Bühnenrand als Gretchens Kind aus und lässt sich ebenso tapfer als Leiche davontragen.
So gut der Grundgedanke dieser Inszenierung auch ist: Am Ende fehlt ihr ein ganzes Stück vom roten Faden. Goethes Drama wird zwar durchaus clever, ja sogar ziemlich texttreu zerpflückt und in neue Kontexte gestellt – der Prolog im Himmel wird etwa an verschiedenen Stellen gekonnt ins Stück integriert –, aber über weite Strecken will der Funke doch nicht überspringen. Letztlich ist es mit dieser Inszenierung ein bisschen wie in Fausts Studierstube selbst: Es gäbe durchaus Dinge, über die man sich freuen könnte an diesem Abend und doch bleibt er letztlich unvollkommen. Zufriedenheit will sich jedenfalls nicht so recht einstellen. Experiment nur teilweise geglückt.
Goethes „Faust“ am Staatsschauspiel Dresden, wieder am 2.12., 8.12., 17.12., 26.12., 3.1., je, 19.30 Uhr und 11.1., 16 Uhr sowie am 28.1., 6.2., 21.2., 19.30 Uhr