„Dresdner Winterreise“ gibt Straßenkindern eine Stimme
Weltoffen oder nicht, modern oder konservativ – es gibt ein Gesicht von Dresden, das wir so gut wie gar nicht kennen. Zwischen all den großen Kulturhäusern, dem Stolz der Dresdner, auch mitten in den kreativsten Ecken der Neustadt, in den Randvierteln ebenso wie in der Innenstadt liegt eine Welt verborgen, die allgegenwärtig ist und vor der wir doch nur allzu gern die Augen verschließen. Es ist die Welt der Straßenkinder und Bettler, der sozial Benachteiligten, Armen, Drogensüchtigen und Obdachlosen. Das dokumentarische Kunstprojekt „Dresdner Winterreise“ hat diese Welt am 25. Januar für zwei Stunden in den Fokus eines Konzerts in der Dresdner Kreuzkirche (Foto: PR) gerückt.
Es war eine einmalige Aufführung, die unter Federführung des Treberhilfe Dresden e.V. und mit ehrenamtlicher Beteiligung des Carl-Maria-von-Weber-Chores Dresden, des Jazzduos FraGILe sowie zahlreicher Solisten und der Schauspieler Yohanna Schwertfeger und Oliver Rohrbeck stattfand. Doch an einem Tag, an dem auf einen Seite am Theaterplatz Sonntagsdemonstranten ihre Kundgebung abhalten, während am Neumarkt schon die Bühne für ein künstlerisches Weltoffenheitsbekenntnis aufgebaut wird, scheint das Wesentliche, Alltägliche seltsam an den Rand gedrängt. Auch deswegen soll das Projekt „Deutsche Winterreise“ des Autors und Regisseurs Stefan Weiller hier noch einmal gewürdigt werden.
Weiller nämlich wandert seit 2009 mit seinem Projekt „Deutsche Winterreise“ durch die Republik, dokumentiert jeweils stadtbezogen die Lebenswelt sozial benachteiligter Menschen und stellt sie in einem musikalisch-lyrischen Programm den Liedern aus Franz Schuberts (1797–1828) Liederzyklus „Winterreise“ (1827) mit Texten von Wilhelm Müller (1794–1827) in Dialog. In Dresden hat er 2014 dafür anonyme Interviews mit 14 jungen Menschen ohne Wohnung, Geld und einen richtigen Halt im Leben geführt. Die lyrischen Extrakte daraus hören sich an wie kurze Lebensfetzen, manche sind nicht länger als ein paar Zeilen. Die Geschichten sind ganz verschieden, doch haben sie eines gemein: Sie erzählen meist von einer dunklen Vergangenheit, der unsere Gesellschaft keine rosige Zukunft mehr gestattet.
Im Wechsel lesen der Synchronsprecher Oliver Rohrbeck und die Dresdner Schauspielerin Yohanna Schwertfeger dabei Sätze wie: „Wir wohnen in Gorbitz, ein Ort, an dem Menschen vor einigen Jahrzehnten voller Stolz jene Adresse nannten. Heute wird sie lieber verschwiegen, damit man nicht abgestempelt wird.“ Oder: „Aber die Gesellschaft sagt, dass jemand wie ich doch besser sein Glück nicht aus Arbeit ziehen sollte, denn Arbeit, Wohnung, ein gutes Auskommen gibt es nicht für jeden. Und Crystal ist leichter zu kriegen als all das.“ Oliver Rohrbeck kann solchen Sätzen noch deutlich mehr Präsenz verleihen als Yohanna Schwertfeger, die einige Male richtig ins Holpern gerät.
Im Dialog mit Müllers Liedtexten und der Musik entfalten diese authentischen Berichte eine schwere Wirkung. Es ist erstaunlich, wie gut Schuberts Lieder die Situation der Straßenkinder widerzuspiegeln scheinen. Sie werden an diesem Abend eindrücklich von Chor, Jazz-Duo und Solisten interpretiert. Am Klavier sitzt Hedayet Djeddikar, die Orgel spielt Ralf Sach. Beide sorgen dafür, dass die Szenen aus den Interviews manchmal bedrohlich wie im Film auflodern. Die Sänger sind zudem fast ständig in Bewegung, sie spielen mit dem Raum, indem sie in der Kirche umherwandern – und zeigen so auch symbolisch: Die Themen Armut, Wanderschaft und Einsamkeit sind überall zu Hause. Sie spielen sich nicht nur an irgendeinem gesellschaftlichen Rand ab, sondern sind mitten unter uns, neben uns – wir müssen nur die Augen und Ohren aufmachen.
War bei Schubert vor allem die Liebe schuld an der einsamen Wanderschaft, so zeigen sich in den Berichten der jungen Menschen von heute verschiedene Ursachen: schwierige Familienbeziehungen, Tod von Verwandten, Drogensucht, frühe Schwangerschaft, Armut. Der Konzertabend wird so für die Zuschauer zu einem bedrückenden, musikalisch-lyrischen Spaziergang durch ein Dresden, das vielen wohl eher unbekannt ist, vor dem wir uns manchmal vielleicht auch fürchten und lieber die Augen verschließen. Die Atmosphäre in der Kirche ist beklemmend, stimmt mit jedem vorgetragenen Lebensfetzen, mit jedem Lied ein wenig nachdenklicher.
Etwa 1600 Dresdner sind an diesem Abend in die Kreuzkirche gekommen, um dieser Wanderung durch ihre Stadt zu folgen. Neben Prominenten wie dem Ehepaar Biedenkopf haben auch einige der jungen Befragten in den Reihen Platz genommen. Manche habe ihre Hunde mitgebracht. Und dennoch ist es doch schade um jeden einzelnen Platz, der in der 3500 Menschen fassenden Kirche frei blieb. Für alle, die das Konzert versäumt haben, wird es jedoch eine CD-Aufnahme der „Dresdner Winterreise“ geben.
Linktipp: www.dresdner-winterreise.de und www.treberhilfe-dresden.de