„Gesellschaft der Blinden“ an der TU-Bühne – eine Kritik
Eine Gesellschaft, die nach und nach erblindet, eine Impfung geht nach hinten los und sorgt nur dafür, dass noch mehr Menschen ihr Augenlicht verlieren. Der Staat reagiert souverän und mit kühler Rationalität, indem er die Menschen umsiedelt, in Wohngemeinschaften zusammenpfercht – sortiert nach vier (Berufs-)Klassen. Klasse vier, das sind die Unbrauchbaren, Schriftsteller zum Beispiel. Sie müssen mit der Situation in dieser „Gesellschaft der Blinden“ nun klarkommen, einer Gesellschaft, in der vermeintlich alle gleich sind und in der gesellschaftstreue „Hilfesteller“ die Blinden durch das Leben leiten.
Das aktuelle Stück der Bühne an der TU Dresden erinnert nicht nur des Titels wegen zunächst an „Die Stadt der Blinden“, jenen Roman von José Saramago, der 2008 als Kinofilm von Fernando Meirelles die Leinwände eroberte. Es erinnert gleichzeitig jedoch an die Utopie einer Science-Fiction-Gesellschaft wie der in Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Alle Menschen sind gleich, erst von der Erblindung, danach von der Gesellschaft der Blinden in den WGs zumindest klassenweise gleich gemacht. Widerstand scheint zwecklos. Aus anfänglicher Hilflosigkeit erwächst so schließlich blinder Gehorsam.
Publikum wird selbst zum Blinden
Florian Gleissner, der an der TU-Bühne zuletzt in der Aufführung „Die fetten Jahre sind vorbei“ mitspielte, inszeniert das Stück hier zusammen mit Lisa Laser. Gemeinsam mit einem starken Studentenensemble gelingt es beiden, zu Beginn eine knisternd geheimnisvolle Atmosphäre aufzubauen. Ein schwarzer Vorhang (Foto: Nicole Czerwinka) wird zwischen den beiden Sitzblöcken im Publikum zugezogen, später wird szenenweise auch der Blick auf die Bühne durch diesen Vorhang verstellt – und der Zuschauer so gleichsam selbst zum Blinden.
Vom Tonband erklingen beschwichtigende Ansagen der Bundeskanzlerin Lisa Elisabeth Schmidt. Sie kommen einem sofort seltsam bekannt vor. Befinden etwa auch wir uns in einer Gesellschaft der Blinden? Die gesellschaftlich verordnete Blinden-WG auf der Bühne lebt sich dennoch ein, mancher kommt sich näher, Beziehungen werden geknüpft, Vorgeschichten erzählt. Täglich hilft die schon immer blinde Hilfestellerin den Bewohnern, auch einfachste alltägliche Aufgaben zu bewältigen – und einer der Insassen hält das Leben dort auf einer Art Tonbandtagebuch fest.
Die guten Seiten der blinden Gesellschaft
Bald zeigt sich jedoch, dass die Gleichschaltung der Individuen in ewiger Dunkelheit auch ihr Gutes hat: Die Kriegstreiberei ist dank Blindheit gestoppt, auch die Kinderpornografie hat ein Ende, dafür richten sich die Menschen nun in einer seltsamen Zufriedenheit ein, die jede Fortentwicklung lähmt. Bis einer der Bewohner plötzlich wieder sehen kann und diese vermeintliche Ordnung gehörig ins Wanken bringt. Ein bisschen ist es auch wie in Platons Höhlengleichnis.
Nur einen Haken hat die Sache: Wenn alle sehen können, werden Ungleichheiten wieder sichtbar. Die blinde Hilfestellerin und auch der schwarze Zimmergenosse wären dann wieder Außenseiter. Beide wollen längst keine Revolution in der Gesellschaft mehr. Auch die anderen scheinen sich fürstlich eingerichtet zu haben. Eine Demokratie will hier niemand, denn diese blinde Gesellschaft versorgt schließlich sogar die Unbrauchbaren – und plötzlich wird der Sehende zum Isolierten im System.
Das Ende des Ganzen verraten wir an dieser Stelle nicht. Wir wollen aber nicht verschweigen, dass dieses Stück philosophisch mitreißendes, nachdenkliches und selten relevantes Theater ist. Die Bühne der TU Dresden schreitet damit weiter auf ihrem eigenen, jugendlich mutigen, freien Weg durch die Dresdner Theaterlandschaft. Gerne mehr davon!
Info: „Gesellschaft der Blinden“ an der Bühne der TU Dresden, wieder am 19.4., 20.15 Uhr und am 30.4., 19 Uhr
Linktipp: https://die-buehne.tu-dresden.de/