Simon Solberg inszeniert „Rabenliebe“ am Kleinen Haus Dresden
Sie sind alle gleich: In graue Anzüge gepackt und mit grauen Bommelmützen behütet stehen sie in einem ebenso grauen Raum und versuchen langsam das Wort „Mama“ auszusprechen. Der kleine, vierjährige Junge, der in den 50er Jahren in einem Kinderheim abgegeben wurde, weil seine Mutter von der DDR aus gen Westen türmte, unterscheidet sich kaum von den anderen. Er ist klein, ein bisschen zurückgeblieben und er redet manchmal mit den Vögeln. Sonst sagt er kein Wort.
Der Junge, von dem das Stück „Rabenliebe“ (Fotos: PR/Matthias Horn) am Kleinen Haus erzählt, ist in Wirklichkeit der Autor Peter Wawerzinek. Er schrieb 2010 seinen gleichnamigen Roman über sein Leben im Kinderheim mitten in der DDR, die Suche nach seiner Mutter, die Erinnerungen an eine Kindheit ohne Sonne. Wawerzinek wurde dafür 2010 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Regisseur Armin Petras entdeckte den Stoff, hatte die Idee, das Buch als Uraufführung am Kleinen Haus auf die Bühne zu bringen – und Regisseur Simon Solberg erarbeitete mit dem Ensemble eine eindrückliche Fassung des 400 Seiten dicken, in starken poetischen Bilden geschriebenen Romans.
Bühne im Regen
Die Bühne des Kleinen Hauses hat Olaf Altmann dazu in eine Art schwarzen Guckkasten verwandelt, links davon steht ein Schreibpult, an dem der erwachsene Autor seine Erinnerungen verarbeitet, ja manchmal regelrecht in die Welt schreit. Rechts befindet sich die Musik, die der Geschichte mit E-Gitarre und Schlagzeug oft flirrende Stimmungen (Musik: Miles Perkin) auf den Leib komponiert. Eine Diashow begleitet die Aufführung auf zwei Leinwänden an den beiden Seiten des Zuschauerraumes. Sie zeigt trostlose Bilder aus Heimen wie diesem, aber keine Originalaufnahmen. Und im schwarzen Kasten rieselt ununterbrochen Regen wie ein Meer aus Tränen.
Packende Atmosphäre
Es ist eine traurige Kulisse für eine ungemein bildhafte, sinnliche Inszenierung, mit der Solberg hier die Erinnerungen der Textvorlage in eindrückliche Bilder übersetzt. Er baut eine starke Atmosphäre, fesselnd und packend, in der die Rollen wechseln: Christine Hoppe, Torsten Ranft, Nele Rosetz, Lea Ruckpaul, Miles Perkin und Sabine Waibel erscheinen abwechselnd als Erzähler und Hauptfigur, sind einsame Kinder, wütende Erwachsene, letztlich doch irgendwie machtlose Geschöpfe, auf der Suche nach sich selbst und nach ihren Wurzeln.
Sie stehen nicht nur für das eine Schicksal, sondern scheinen gleichbedeutend für alle Heimkinder in der düsteren DDR. Und sie bringen die Romangeschichte in bedrückenden Gesten auf die Bühne, hin und wieder aber auch in Anekdoten, die schmerzhaft amüsant sind. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Mädchen, der Abend mit einer frechen Göre (Lea Ruckpaul) unter der Bettdecke, der als kurioses Erlebnis im Kopf bleibt.
Triste Dias der Erinnerung
Besonders Lea Ruckpaul und Torsten Ranft treffen die Balance der Hauptfigur zwischen Ohnmacht angesichts der eigenen Lebensgeschichte und dem Drang, dieser dennoch nachzugehen, einfühlsam. Die Mutter ist nie da und dennoch allgegenwärtig, zwei Adoptionsversuche scheitern – auch das sind humorvolle Momente der Inszenierung. Die Möchtegern-Mütter sind hier überzeichnete Figuren, mit dicken Bäuchen oder wirbelnden Staubwedeln. Der DDR-Kontext spielt hingegen nur insofern eine Rolle, als dass die Dias der Erinnerung dadurch vielleicht besonders trist wirken. Und natürlich wird der Kontakt zur Rabenmutter für den Sohn erst nach NVA und Mauerfall möglich. Eigentlich geht es aber weniger um die rigorose Flucht der Mutter in den Westen, als vielmehr um das dadurch entstandene Gefühl des Verlassenseins. Thema ist die Muttersuche, um die auch im Theater alles kreist. Wie in einem endlosen Trichter.
Enttäuschung am Ende
Die eigene Mutter erscheint ihm später von Angesicht zu Angesicht als „Trugbild“, die Erinnerung als Trickbetrügerin. Sie kann die seit 50 Jahren klaffende Lücke nicht schließen. Das Vorhandensein von acht weiteren Geschwistern ist schmerzlich, wird allerdings zum Trost, als diese berichten, dass die Mutter auch sie vernachlässigt hat. Inzwischen hat der Regen auf der Bühne aufgehört, aber man weiß nicht genau, ob das wirklich besser ist. Die Suche jedenfalls ist beendet und mit ihr 1 ¾ intensive Theaterstunden.
„Rabenliebe“ am Kleinen Haus Dresden, wieder am 27.10., 13.11., 26.11. und 6.12.