Mozarts „Entführung aus dem Serail“ als opulentes Märchen an der Semperoper
Eine verschleppte Braut in den Fängen der Türken, ein suchender Bräutigam im Sumpf des Fremden: Okzident trifft auf Orient. Mehr brauchte Wolfgang Amadeus Mozart nicht, um den Kampf zwischen zwei Kulturen in einen Opernstoff zu gießen. Schon 1782, als Mozart mit seinem Librettisten Johann Gottlieb Stephanie sein berühmtes Singspiel „Die Entführung aus dem Serail“ nach dem Textbuch von Christoph Friedrich Bretzner aus der Taufe hob, stand Europa am Scheideweg und die Welt begann sich neu zu ordnen. Just einen Abend vor dem Referendum in der Türkei feierte bei den Mozart-Tagen an der Dresdner Semperoper nun eine Neuinszenierung (Fotos: PR/Jochen Quast) des beliebten Repertoire-Stücks Premiere – und zeigt umso mehr, wie aktuell der Stoff bis heute ist.
Ohne das Stück mit der Brechstange zu aktualisieren, lässt der Holländer Michiel Dijkema seine Inszenierung zu einem bunten Fest der Sinne werden. Schon der Auftakt ist famos: Belmonte stapft durch den knietiefen Matsch, die feinen Seidenkleider schwarz verklebt, die Brust voller Blutegel – und sucht verzweifelt im türkischen Sumpf nach seiner Geliebten Konstanze, die mitsamt dem Dienerpaar Blonde und Pedrillo von Piraten gekapert, vom Bassa Selim gekauft und festgehalten wurde. Der türkische Wächter Osmin kann oder will ihn nicht verstehen. Erst das Wiedersehen mit Pedrillo bringt die Rettungsaktion der Geliebten schließlich in Gang.
Mit einer überbordenden Märchenästhetik betont Michiel Dijkema bei seinem Regiedebüt in Dresden eher das Volkstheaterhafte des Singspiels, macht dabei aber bildgewaltig deutlich, wie tief der Bruch der Kulturen bis heute (in den Köpfen) klafft. Er verwandelt die große Drehbühne in eine verwunschene Sumpflandschaft, in der prächtige Janitscharenumzüge ebenso wie ein agiles Krokodil und Kamele nicht fehlen. Das opulente Orientbild jedoch erscheint hier ganz klar als Illusion, lässt einen phantasievollen Mythos aufleben, der sich vor allem aus utopischen Vorstellungen vom Fremden speist. Claudia Damm und Jula Reindell haben dazu wundervoll märchenhafte Kostüme geschaffen, die beide Kulturen prachtvoll widerspiegeln.
Manches schrammt schon beinahe an der Grenze zum Kitsch, verfehlt die Wirkung jedoch nicht. Denn im Märchen offenbart sich bekanntlich manch bittere Wahrheit – und die Musik sagt bei Mozart ohnehin alles. Besonders großartig an diesem Abend: Der Dirigent Christopher Moulds gibt der Sächsischen Staatskapelle Dresden schon in der Ouvertüre ordentlich Pfeffer und arbeitet Mozarts spielerische Akzente lebendig heraus. Das Orchester glänzt in rasanten, lebhaften Passagen voll ironischer Getriebenheit, setzt in den ruhigeren Momenten dazu eindrückliche Kontraste. Mozarts Musik wird so zu einem Feuerwerk der Farben und Temperamente, zur vergnüglichen Hetzjagd mit Happy End.
Der spanische Tenor Joel Prieto ist ein eleganter Belmonte, der mit seinem lyrischen Gesang die Welt des feinen Europa zeichnet. Anders als ihm gelingt es Pedrillo, sich in der Fremde zu arrangieren. Der Dresdner Manuel Günther gibt Pedrillo als leichtfüßig patenten Gehilfen, hält mit pfiffigen Ideen das Spiel fast wie ein Erzähler in Gang. Den garstigen Türkenwächter Osmin, der nie bereit ist über den Tellerrand seiner Welt zu schauen, bringt Dimitry Ivashchenko mit Humor auf die Bühne. Er verleiht der Basspartie bisweilen sogar lyrische Leichtigkeit, nimmt das Boshafte fast spielerisch, sodass sein Zorn selbst am Ende nie ernsthaft bedrohlich wirkt.
Auch für die Sprechrolle des Bassa Selim hat die Semperoper mit dem aus Film und TV bekannten Schauspieler Erol Sander einen guten Griff getan. Sein Bassa ist so ein Typ türkischer Macker mit Herz. Den Traditionen seiner Kultur verhaftet, ursprünglich aber aus Europa stammend, bewahrt Selim stets einen Funken Respekt vor seinen Gefangenen. Im silbernen Mantel wirkt er wie ein Edelmann aus einer anderen Welt – macht aber sofort wortgewaltig Konstanze den Hof.
In der Partie der Schönen glänzt Simona Šaturová zwischen schüchterner Wehmut und brodelnder Leidenschaft für das Exotische. Fasziniert von der Welt des Bassa schenkt sie ihm wilde Küsschen, bleibt ihrem Belmonte jedoch treu. Ganz anders Blonde, die Osmin mit sturer Standhaftigkeit trotzt und sich so gar nicht mit dem Frauenbild des Türken anfreunden kann. Tuuli Takala behauptet sich entzückend als freche Blonde im Reich der Fremden.
Der Höhepunkt jedoch kommt zum Schluss: In einem spektakulären Akt seilen sich Belmonte und Pedrillo mit den beiden Damen endlich aus der Türkenwelt ab. Donnergrollen dröhnt, Blitze zucken durch den ganzen Saal, bevor die vier in einer gewaltigen türkischen Folterkammer statt in der Freiheit enden. Der Zorn des Bassa Selim wandelt sich jedoch überraschend in einen Gnadenakt: Er lässt sie frei, am Ende siegt die Vernunft. Man wünscht sich, dass es nicht nur in der Oper so sein möge.
„Die Entführung aus dem Serail“ an der Semperoper Dresden, wieder am 18., 24. und 30. April, 5., 15. und 19. Mai