Eine Dresden-Geschichte zum Weihnachtstag
An den Ständen auf dem Striezelmarkt herrschte noch geschäftiges Treiben. In wenigen Stunden würden die Glocken der Kreuzkirche zur Christmesse läuten. Doch noch war die Saison der rot kandierten Zuckeräpfel und gebrannten Mandeln nicht vorbei. Die Menschen hasteten übers Altstadtpflaster, um Geschenke zu besorgen und auch ich huschte schnell durch die schmalen Gassen zwischen den Buden am Altmarkt, während das Karussell unermüdlich im Takt der Weihnachtslieder kreiste. Am Rondell in der Mitte bleib ich stehen, um ein letztes Weihnachtsgeschenk zu kaufen.
Ich wollte meiner Omi eine Kugel aus Lauschaer Glas schenken – und schob mich sanft an den Stand heran. Von Gegenüber wehte verführerisch der Duft nach frischen Waffeln herüber. Mir kam mein Treffen mit Stefan in den Sinn und mein Herz machte einen Sprung. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, die Verkäuferin riss mich aus meinen Gedanken und schaute mit großen Augen zu mir herüber. Ich ließ den Blick über die vielen bunten Kugeln schweben, die in allen Größen und mit verschiedenen Motiven bemalt im Innern hingen. Meine Wahl fiel spontan auf eine blaue, auf deren Wölbung mit zarten, weiß glitzernden Strichen Sterne und ein Winterwald skizziert waren. Ja, die musste es sein! Langsam streifte ich den Handschuh von meinen Fingern und zeigte auf die Glaskugel. „Was kostet diese da?“ Die Verkäuferin angelte vorsichtig ein kleines, zartes Pappschild vom Faden und las: „30 Euro.“ Ein paar Minuten später lag meine Kugel sicher in Seidenpapier verpackt in einer kleinen Schachtel, welche ich von der Verkäuferin auf Anfrage wiederum in festliches Geschenkpapier wickeln ließ. Ich nestelte die 30 Euro und ein bisschen Trinkgeld aus meinem Portemonnaie hervor, schob das Geschenk in meine Tasche und lief gemächlich zur großen Pyramide.
Stefan wartete schon auf mich. Wir umarmten uns zur Begrüßung. Es war eine dieser warmherzigen, sehnsuchtsvollen Umarmungen, Wange an Wange. Dann fragte er mich, ob er mich auf einem Punsch einladen dürfe. Wir hatten uns seit unserer ersten Begegnung am Neumarkt noch nicht wiedergesehen. Der damals vereinbarte Kinobesuch war im Vorweihnachtsstress bislang untergegangen. Dafür hatten wir zweimal telefoniert und uns täglich SMS mit kleinen Alltagsgrüßen geschickt. Ein warmes Kribbeln breitete sich in meinem Magen aus, als er auf dem Weg zum nächsten Glühweinstand plötzlich den Arm um meine Schulter legte und fragte, wie es mir geht. „Gut“, antwortete ich – unfähig, mehr als dieses eine Wort zu sagen. Als ich stattdessen den Kopf zur Seite drehte und in seine Augen sah, blitzte die Erinnerung an den Bettler unter den Arkaden von neulich in mir auf. Stefan hatte genau dieses Strahlen im Blick wie der Bettler damals. „Halte die Erinnerungen fest, sie sind das Wertvollste, das wir besitzen“, hörte ich den seltsamen Alten vom Martin-Luther-Platz in meinem inneren Ohr sagen. Seine Worte hallten jetzt in meinem Kopf wider.
In diesem Moment hielt mir Stefan eine Tasse mit Punsch vor die Nase. „Bitte“, er lächelte sein strahlendes Lächeln. „Welche Erinnerungen hast Du an den Striezelmarkt früher?“, fragte ich ihn unverblümt, er schaute mich überrascht, aber mit offenem Blick an. „Ich habe als Kind immer diese roten Äpfel gegessen und ich bin Karussell gefahren, am liebsten dreimal hintereinander!“ Jetzt musste ich lachen. „Du auch? Mir ging es ganz genauso“, sagte ich. Ich fühlte mich ihm auf einmal seltsam nah. Es war, als hätte sich die Tür zu einer anderen Welt geöffnet, einer Welt, in der wir beide mal zu Hause waren. Dann zog mich Stefan mit einem Ruck zu sich heran und küsste mich herzlich auf die Wange. „Wir haben uns bestimmt nicht umsonst ausgerechnet auf dem Weihnachtsmarkt kennengelernt. Darf ich Dich morgen endlich ins Kino einladen?“, fragte er nun. Ich nickte eifrig und spürte, wie meine Wangen nicht vor Kälte, sondern von jener inneren Wärme gerötet waren, die bei jeder Begegnung mit Stefan in mir aufstieg.
Suche die Liebe, sammle gute Erinnerungen. Das ist der Schlüssel zum Glück!“
Noch als ich am Nachmittag bei meiner Familie am Kaffeetisch saß, musste ich daran denken. Ich war erfüllt von diesem Gefühl der Liebe, das nicht von mir weichen wollte, auch wenn ich mich für heute von Stefan verabschiedet hatte. „Suche die Liebe, sammle gute Erinnerungen. Das ist der Schlüssel zum Glück“, hatte der Alte bei unserer ersten Begegnung an der Elbe zu mir gesagt. Jetzt ahnte ich, was er meinte. Meine Mutter schnitt den Stollen in dicke Scheiben und verteilte ihn auf unsere Teller. Von unserem Esszimmer konnte man auf das Blaue Wunder sehen, das jetzt in der Dämmerung lag und für mich eine unglaubliche Geborgenheit im Lampenschein ausstrahlte. Dresden. „Hast du den Stollen wieder bei Bäcker Wippler gekauft?“, fragte meine Großmutter mit ihrer gütigen Stimme. „Ja, wie immer Mutti“, hörte ich meine Mutter sagen. „Sein Geschmack, seltsam, er … er erinnert mich an etwas.“ Oma schaute mit sinnendem Blick auf die Pyramide, die sich im Kerzenschein fröhlich drehte – und als ich ebenfalls ein Stück vom Stollen abbrach und mir in den Mund schob, kam es mir ein. Ich wusste plötzlich ganz genau, was sie meinte.
„Er erinnert dich an Weihnachten am Martin-Luther-Platz, an Kaffeeduft, echte Kerzen auf dem bunt geschmückten Baum und Klavier-Musik aus dem Nebenzimmer. Stimmt‘s?“ Ich merkte erst jetzt, dass ich diese Worte laut ausgesprochen hatte, als mir der Geschmack des Stollens die Erinnerung an den Traum mit dem Alten wieder ins Gedächtnis rief. Nun fiel es mir ein: Oma war die schöne Frau im blauen Kleid gewesen, die uns am Martin-Luther-Platz fröhlich Kaffee serviert hatte. Warum war mir das nicht sofort aufgefallen? Verblüfft schaute mich meine Oma an. „Ja, genau! Kind, aber woher weißt Du das?“ Ja, woher wusste ich das? „Du hast es mir erzählt, Oma. Als ich klein war. Kannst Du Dich nicht mehr erinnern?“, fragte ich schnell, um von meiner Verlegenheit abzulenken.
Jetzt erkannte ich, was es mit dem seltsamen Traum auf sich hatte. Der alte Mann mit den Zauberaugen hatte mich in die Vergangenheit geführt, er hatte Erinnerungen für mich aufbewahrt und wieder lebendig werden lassen. Ich war selbst verblüfft über diese Erkenntnis – und ich wusste nun, dass er mit allem recht gehabt hatte. „Halte die Erinnerung fest, behalte sie im Herzen. Glaub mir, Du wirst sie noch brauchen – und jemand anderes vielleicht auch“, hatte er zu mir gesagt. Meine Oma schaute mich noch immer erstaunt an. „Und das hast Du Dir gemerkt? Das ist ja toll! Wo ich es selbst fast schon vergessen hatte. Ja, Weihnachten damals am Martin-Luther-Platz, das war etwas ganz Besonderes …“ – und dann fing sie plötzlich an zu erzählen, während ich heimlich nach dem Notizbuch in meiner Tasche tastete. Es waren so viele Erinnerungen, die ich heute Abend darin festhalten würde.
Dies ist der Abschluss einer vierteiligen Adventsgeschichte aus Dresden, lest die vorherigen Teile hier:
Teil 1 „Der alte Mann am Fluss“