„Babylon Berlin“ verfolgt uns bis nach Dresden
Bei Tageslicht ist es bloß ein Sexshop an der Ecke Robert-Blum-/Antonstraße in Dresden. Doch in der Dunkelheit eines frühen Herbstabends spiegeln die beleuchteten, halbrunden Fenster des alten Gebäudes mit einem Mal die schwungvolle Zeit der 1920er Jahre wider. Bislang war mir die faszinierende Architektur, die hier unter hohen Neubauten wie geduckt verborgen liegt, nie aufgefallen. Ein Sexshop halt. Doch in dieser Nacht erinnern die Lichter dahinter tatsächlich verblüffend an das verheißungsvolle Vergnügen in der Serie „Babylon Berlin“ und die fiktive Serienwelt scheint in der Dresdner Realität angekommen.
Am Fernsehbildschirm im heimischen Wohnzimmer hat sie uns schon längst gepackt. Ja, sie hat uns regelrecht den Kopf verdreht. Die Story um den kriegsgeschädigten Kommissar Gedeon Rath, von Volker Kutscher 2007 unter dem Titel „Der nasse Fisch“ als Roman veröffentlicht, von Tom Tykwer, Henk Handloegten und Achim von Borries in einer der teuersten deutschen Produktionen fürs Fernsehen inszeniert, sie kann einem wirklich den Atem rauben. Bei der Erstausstrahlung auf Sky im Herbst 2017 erreichten allein die ersten beiden Folgen in den ersten sechs Tagen 1,19 Millionen Zuschauer. Die Ausstrahlung der ersten drei Episoden im Free-TV wurde in diesem Herbst von 7,83 Millionen Zuschauern gesehen und erzielte einen Marktanteil von 24,5 Prozent.
Die Faszination der Krimi-Serie, in der das Berliner Leben der 1920er Jahre in all seinen abgründigen Facetten über den Bildschirm tanzt, kommt nicht von ungefähr. Mit Volker Bruch und Liv-Lisa Vries hat man zwei starke, ungemein sympathische Hauptdarsteller gefunden. Die Geschichte erzählt von einem Staat der konträren Meinungen, von Menschen, denen es dreckig geht und jenen, die aus den Abgründen der anderen kaltschnäuzig Kapital schlagen. Es ist eine Gesellschaft, die zwischen Demonstrationen und Gewalt, Armut, sozialer Not und Vergnügungssucht den Weg in eine bessere Zukunft sucht – doch stets davon abzukommen droht. Im Berlin der 1920er Jahre liegen rauschende Feste, Tanz, Musik, Cabaret direkt neben Straßenschlachten, Schießereien und Maiaufständen. Alle sind verstrickt in irgendwas. Am Ende – das ist fast schon märchenhaft – suchen sie nach einem geheimnisvollen Zug mit dem Gold der Sorokina.
Zu Beginn der Ausstrahlung von „Babylon Berlin“ waren die deutschen Feuilletons voll mit Essays darüber, was die Zeit der Weimarer Republik mit der heutigen gemein hat. Warum sind wir dieser Serie verfallen? Was fasziniert uns daran? Wir leben nicht mehr in der Weimarer Republik. Wir sollten längst wissen, wie eine richtige Demokratie funktioniert und wie fragil sie sein kann. Doch es geht hier nicht um Politik. Es geht um das Lebensgefühl, das darin zum Ausdruck kommt: Die extrem ausgelassene Unbeschwertheit in einer Welt, in der nichts sicher scheint. Eine Gesellschaft, die gerade den Ersten Weltkrieg im Rücken hat und die sich im Wandel befindet, kann getrost feiern, als ob es kein Morgen gäbe. Die kann freilich auch betrügen, als ob es kein Morgen gäbe. Die lebt in der unbedingten Freiheit, das zu tun, wozu man eben lustig ist. Grenzen zu sprengen. Das fühlt sich beinahe an wie Anarchie, ist es aber eben dann doch nicht. In jedem Fall setzt es eine ungeheure Kreativität frei – zum Feiern, zum Betrügen, zum Verrat und zur individuellen Traumerfüllung. Gerade diese exzessiv gelebte Lebendigkeit ist es schließlich, die uns einer digital gesteuerten Welt abhanden zu kommen droht.
Und dann ist da natürlich der Reiz des Gestern. Die 1920er Jahre erscheinen im Rückblick so stilvoll wie kaum eine andere Epoche. Die Frauen trugen schmal geschnittene Kleider, sie schauten selbstbewusst unter den tiefen Krempen ihrer Filzglocken hervor und sie begannen auf öffentlicher Straße zu rauchen. Die Männer trugen Trenchcoat und Hut. Im Kino lief die Wochenschau. In den Tanzclubs spielten begnadete Jazzbands Swing und Charleston, man trank Champagner aus Kristallgläsern und fuhr im Automobil nach Hause. Es ist die Zeit der Gatsbys und Gangster. Wahrscheinlich ist sie nur in der Rückschau und mit genug zeitlicher Distanz so faszinierend und verheißungsvoll wie in der Serie „Babylon Berlin“. In Wahrheit aber ist ihr Ruf so trügerisch wie die Lichter eines unscheinbaren Sexshops, die an düsteren Herbstabenden bunt durch die Glasfenster eines Baudenkmals in der Dresdner Antonstadt scheinen …