Chilly Gonzales rockt nach 17 Jahren wieder in Dresden und begeistert im ausverkauften Kulturpalast
Moment mal, was ist denn das? Ja, richtig gesehen! Normalerweise betritt bei den Dresdner Musikfestspielen kein Künstler die Bühne im Pyjama und auch nicht im seidenen Morgenmantel. Natürlich nicht! Einer wie Chilly Gonzales aber, der darf das. Der Pianist ist dafür bekannt, die schwarz-weißen Tasten seines Instruments als lebendes Gesamtkunstwerk zu bespielen – warum sollte das in Dresden auch anders sein?
Und so huscht er in Filzpantoffeln hinein, in den noch düsteren Saal, setzt sich an den Flügel und spielt einige Takte – ja, wovon eigentlich? Es sind bloß ein paar Akkorde, anders als alles, was man bei den Festspielen bislang gehört hat. Sequenzen, die allmählich mit Rhtyhmus versehen zu Musik werden, Elemente aus Pop und Jazzsongs, auch ein paar Klassiker mengen sich kaum merklich unter. Der Saal lauscht gespannt, der erste Applaus könnte vielleicht sogar lauter sein. Doch gute zwei Stunden später ist das schon vergessen, verklungen unter Bravorufen und lautem Jubel.
Chilly Gonzales wird in Dresden vom Publikum gefeiert, am Ende gibt es stehende Ovationen für eine Show, die sich nur schwer in Worte packen lässt. Gespielte Lässikeit vermischt sich da mit spielerischer Virtuosität. Im wechselndenden Farbspiel des Lichts (all das gehört zur Show) gibt Chilly abwechselnd den lehrerhaften Entertainer, den verträumten Künstler, die Rampensau. Er changiert mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen Rockstar und Schauspieler und saust über die Tasten am Flügel, bleibt mal in dieser oder jeder Ecke kleben – und spielt dabei doch grandios mit Erwartungen und Hörgewohnheiten der Anwesenden.
So wie Chilly Gonzales im schwarzen Morgenmantel und in Pantoffeln am Flügel sitzt, könnte man meinen, das ist einfach nur Theater. Doch hinter der lässigen Fassade versteckt sich großes Musikverständnis, gepaart mit allerlei Hintersinn. Spielt drei Takte Bach, stoppt und fragt in den Saal: „Do you think, this is good music? It is famous music!“ Dann spielt er weiter, stimmt Eigenes an. Stücke von diversen Gonzales-Alben, Solo Piano I bis III, dazwischen blitzen kurze Fetzen von Bach, Beethoven, Britney Spears – bis hin zu Jazz und Rock. Das mag simpel in der Struktur sein, entfaltet sich im Zusammenspiel mit dem Cello von Stella Le Page (noch ein Künstlername) und Schlagzeuger Joe Flory jedoch wirkungsvoll.
Dazwischen moderiert Chilly selbst, auf Deutsch und Englisch, lässt Begriffe wie „Schlagzeug“ auf der Zunge zerfließen und langsam im Raum aufgehen. Er spielt mit Sprache genau wie mit seinen Tasten und mit dem Publikum. Er philosophiert und wirkt am Klavier manchmal beinahe verträumt, so als säße er in einer schlaflosen Nacht am Flügel und phantasiere sich die Welt in Musik zusammen. Ganz langsam steigert er dabei das Tempo und mit jedem Song, mit jeder Sequenz die er allmählich flammen lässt, wird deutlicher: Diese Show ist ein ausgeklügeltes Werk mit klarer Dramaturgie, die mit der Unaufhaltsamkeit eines Tsunamis allmählich auf den brodelnden Höhepunkt am Ende zusteuert.
Die Regie überlässt er jedoch nur scheinbar dem Publikum, das ihn angestachelt von Leipzig-Dresden-Vergleichen und frechen Sprüchen wie wild feiert und bei der letzten Zugabe schließlich schweigend die Stille zelebrieren soll. Vier Minuten lang. Vier Minuten zu viel. Bis im Saal zweifelsfrei auch der Letzte davon überzeugt sein MUSS, dass Psychologie und Musik zusammen ein prima unterhaltsamer Zeitvertreib sind.
*Die Autorin dieses Beitrags ist Pressereferentin der Dresdner Musikfestspiele, der Artikel entstand dennoch (so wie alle auf dieser Seite) unentgeltlich und unabhängig von dieser Aufgabe.