Staatsschauspiel zeigt Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ in einer Adaption von Ewald Palmetshofer
Es geht wild her im Hause Krause. Ein Baby kündigt sich an, letzte Besorgungen sollen gemacht werden, wobei die werdende Mutter ihre traute Familie im lichtdurchfluteten Heim lauthals herumkommandiert, runterputzt, das eigene Leiden zur Schau trägt. „Wir werden, was wir sind“, wollte Gerhart Hauptmann 1889 mit seinem dramatischen Erstlingswerk „Vor Sonnenaufgang“ (Fotos: Sebastian Hoppe) zeigen. Am Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden kommt das Paradestück des Naturalismus nun in der Adaption des österreichischen Dramatikers Ewald Palmetshofer auf die Bühne.
Er verpflanzt die Handlung in seiner Bearbeitung von 2017 ins 21. Jahrhundert. Hauptmanns Bauernfamilie hat ein mittelständisches Unternehmen aufgebaut, das für die Autoindustrie fertigt. Das Eigenheim wird ausgebaut. Die älteste Tochter Martha hat den Angestellten Thomas geheiratet, der die Firma einmal übernehmen soll. Ein selbstbewusster junger Mann mit Zielen im Leben. Das nächste ist die Geburt seines Kindes. Doch Frau Martha leidet an der Welt wie an der Schwangerschaft. Sie ist chronisch missgelaunt, da kann auch der Besuch ihrer jüngeren Schwester Helene kaum etwas ändern. Die Ehe kriselt ebenso wie das gesamte Familiengefüge.
Auf der Bühne von Hansjörg Hartung dominiert eine ausziehbare Fensterfront, die während des Stückes zugleich als Barriere dient, mit deren Hilfe sich Familienstreits und Monologe wie im Fernsehen kurzerhand stummschalten lassen. Dahinter eine moderne Küche mit Esstisch, ein Sofa, auf dem neben den Familienmitgliedern bald ein überdimensionierter Teddy Platz findet – und jede Menge Raum für allzu menschliche Konflikte. Alkohol fließt reichlich in diesem Reihenhaus-Idyll. Es wird geschrien und gezankt, diskutiert und polemisiert was das Zeug hält. Nicolai Sykosch und Michael Talke gelingt es, in ihrer Inszenierung atmosphärische Dichte aufzubauen, die den Zuschauer fesselt. Intensive Momente wechseln mit rasanten Dialogen. Es geht derb zu, unterhaltsam, oft amüsant. Inszeniert wird das filmisch szenenhaft mit kurzen Unterbrechungen, Standbildern, auch mit musikalischem Hintergrund (David Kosel).
Der Zuschauer wird zum Voyeur. Er mag sich dabei wohlig zurücklehnen, doch sind die Figuren in ihren Beziehungen fein ausgeleuchtet und suchen sich wie selbstverständlich Raum in unserem Erfahrungsschatz. Bravourös verleiht Jannik Hinsch dem werdenden Vater Thomas charakterliche Tiefe. Ihm folgt man sofort in das lichte Haus, sei es mit der Kaffeetasse oder dem Glas Wein in der Hand. Gesellig und zielstrebig ist Thomas, ein Macher ohne besonders viel Fein-, dafür aber mit Geschäftssinn. Geduldig trägt und erträgt er die Verantwortung für seine strauchelnde Gattin. Hinsch gelingt es dabei von Anfang an, eine differenzierte Sicht auf die Figur zu eröffnen, statt bloß klischeebeladen einen Rohling mit Sympathie für den rechten Rand zu mimen.
Sarah Schmidt hingegen reduziert die Martha meist aufs Furienhafte. Sie schreit, tobt, zickt sich so vehement durch den Abend, dass die wenigen ruhigen, einsichtigen Augenblicke kaum mehr glaubwürdig wirken. Einzig wahre Bezugsperson von Martha scheint ihre Schwester Helene zu sein, die Henriette Hölzel als moderne Außenseiterin zeigt. Bisweilen wirkt sie etwas zu blass für jene mutige junge Frau, die schon bei Hauptmann aus dem Milieu ihrer Familie auszubrechen versucht und dennoch darin gefangen bleibt. In der Begegnung mit Thomas Studienfreund Alfred Loth kommt Helene für einen bunten Moment der Unbeschwertheit dann doch aus ihrer Zurückhaltung heraus.
Philipp Grimm verleiht diesem Alfred etwas ewig Studentisches. Er ist ein Vagabund ohne Ziel, jedoch mit klarer Meinung und aktivistischem Potenzial, der Thomas klar Paroli bietet. „Wir sind auch, was wir werden können“, ist sich Loth sicher. Klar, dass Helene da schwach wird! Und dann sind da noch die Eltern: Holger Hübner bietet als Vater Egon Krause und dominierter Ehemann mit Herz einige herzhaft köstliche Momente, bleibt insgesamt jedoch ein wenig eingeschränkt. Fanny Staffa hingegen verleiht Krauses zweiter Frau Annemarie als Hausherrin allerhand Schwung. Jeder kennt diesen Typ Schwiegermutter und Frau! Jeder! Und ebenfalls wohl bekannt die Konflikte, die zwischen Stieftöchtern und zweiter Ehefrau des Vaters beständig schwelen. Fanny Staffa, Henriette Hölzel und Sarah Schmidt bringen diese Konflikte im Stück famos brodelnd auf die Bühne.
David Kosel ist in der Rolle des Dr. Peter Schimmelpfennig auf den aus Erfahrung Resignierten reduziert. Dieser Arzt glaubt schon lange nicht mehr an die Entwicklungsmöglichkeit des Menschen jenseits des ihm bestimmten Milieus! Und so steuert letztlich alles aufs traurige Finale vor dem Sonnenaufgang hin: keine Entwicklung, keine Liebe, kein Leben.
Am Ende des Tages jedoch ist es ein großer Hauptmann-Abend, der noch lange Nachklang finden wird.
Info: „Vor Sonnenaufgang“ nach Gerhart Hauptmann am Kleinen Haus des Staatsschauspiels, wieder am 2. April, 16 Uhr; 21. April; 11. Mai; 28. Mai, 19.30 Uhr