Lesetipp im Juli: „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“ von Lars Mytting
Tief unten im Løsnesvatn ruht eine alte steinerne Kirchenglocke, um die sich so manche Mythen ranken. Es heißt, sie sei eine von zwei Schwesternglocken, einst für die siamesischen Zwillinge Gunhild und Hilfrid Hekne gegossen, jedoch getrennt, als die 700 Jahre alte Stabkirche in Butangen abgebaut und vom tiefsten Norwegen nach Dresden verbracht wurde. Der Autor Lars Mytting schenkt dieser Stabkirche in seiner „Schwesternglocken“-Trilogie im Großen Garten am Ufer des Carolasees eine neue Heimat. Mit dem Roman „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“ ist der zweite Teil dieser Trilogie erschienen, der uns ins archaische Norwegen um 1800 ebenso wie ins königliche Dresden führt.
Die Geschichte ist erzählt die Saga der Hekne-Familie aus dem Gudbrandsdal fort und ist auch ohne Vorkenntnis des ersten Teils gut verständlich. Geheimnisvoll, sprachschön und fesselnd verwebt Mytting die Welt des Aberglaubens mit dem aufkommenden Fortschritt in einem armen Dorf in Norwegen. Jehans lebt als Bauer in bescheidenen Verhältnissen, er interessiert sich für die Jagd und leidet unter seinem Onkel Osvald, der die Häusler auf seinem Grund und Boden unter schier unmenschlichen Verhältnissen zur Landarbeit verpflichtet.
Doch eines Tages trifft Jehans bei der Jagd auf einen Unbekannten aus England, dem er sich seltsam vertraut fühlt. Immer wieder kreuzen sich die Lebenswege der beiden, als seien sie unsichtbar miteinander verbunden wie die Kirchenglocken im Løsnesvatn und in Dresden. Dank Pfarrer Kai Schweigaard, den eine unsterbliche Liebe mit Jehans Mutter Astrid verband, genoss der Bauer einst eine gute Bildung und weiß diese bald zum Wohle des gesamten Dorfes einzusetzen.
Mit nordischer Ruhe erzählt Mytting die Geschichte des jungen, unzähmbaren Norwegers und baut dabei eine dichte Atmosphäre der nordischen Landschaft und Traditionen. Er lässt den Leser raue Winter und unbarmherzige Herbststürme spüren und ihn Teil dieser Dorfgemeinschaft zwischen Aberglauben und Fortschritt werden. Die alte Stabkirche in Dresden wird zum zweiten Fixpunkt der Handlung. Und scheint es uns auch seltsam, dass im Großen Garten eine alte nordische Stabkirche stehen soll, so verleiht Mytting dieser Fiktion doch glaubhaft Authentizität.
Es ist ein mystischer Roman über die Geheimnisse des Vergangenen, die Bindung zu einer Familie, die Liebe zur Heimat und die unbeschreibliche Kraft des Glaubens. Ein Buch, das ähnlich wie ein altes nordisches Webmuster mit jeder Zeile neue Farben, neue Wendungen und neue Überraschungen birgt, das uns fesselt wie das Leben und manchmal zu Tränen rührt. Voll nordischer Melancholie und voller Hoffnung darauf, dass alles gut werden wird, wenn wir nur fest daran glauben.
Buchinfo: Lars Mytting „Ein Rätsel auf blauschwarzem Grund“, 2022 bei Insel Verlag