Arrigo Boitos „Mefistofele“ begeistert an der Semperoper
Die Musik beschreibt mächtige Landschaften. Gewittergrollen und tosenden Wind, während die Menschen passiv am Rand sitzen, hineinschauen in diese Welt, in der sie irgendwo ihren Platz finden müssen. Einen Platz zwischen Streben und Glück. Nein, Mephisto ist kein Teufel. Eva-Maria Höckmayrs Inszenierung von Arrigo Boitos „Mefistofele“ (Foto: David Baltzer) an der Semperoper Dresden zeigt ihn weder als Pudel noch mit roten Zorneshörnern. Dieser Satan sieht vielmehr selber aus wie ein Gelehrter in Mantel und Schlips. Er könnte auch Dichter oder Börsenmakler sein. Ein ganz normaler Verführer von heute und in aller Zeit.
Gut 100 Jahre nach der Uraufführung wurde Boitos „Mefistofele“ 1987 bei einem Gastspiel des Teatr Wielki w Lodzi im Rahmen der Dresdner Musikfestspiele erstmals hier gezeigt. Die neue Semperopern-Intendantin Nora Schmid schenkt der Stadt zum Einstand nun quasi eine Doppel-Premiere: Es ist am Haus die erste eigene Produktion des Stückes, das im wesentlichen Goethes großen Weltdrama folgt – und dabei sowohl den ersten als auch den zweiten Teil der Tragödie zum Thema macht. Bildgewaltig und hintergründig kommt der Klassiker hier auf die Bühne, erzählt wird der schwere Stoff dabei durchaus heutig als opulentes Episodenstück.
Mächtige Chorszenen sorgen für musikalisch wie szenisch eindrucksvolle Momente. Krzysztof Baczyk zeigt den Mephisto bei seinem Hausdebüt nicht nur stimmlich herausragend, er verleiht ihm auch in Mimik und Gestik ironisch humorvolle Tiefe. Mit schillernder Wandlungsfähigkeit, in seiner Ambivalenz niemals ganz greifbar, beschwört dieser allzu menschliche Teufel allerlei Bilder und Szenen herauf, während Faust wie sein irrlichternder Zwilling über die große, schräge Drehbühne durch seine Existenz strudelt. „Habe nun ach …“
Die Kulisse von Momme Hinrichs wirkt schlicht und ist doch extrem wandlungsfähig. Eine Videoprojektion verleiht der Magie des Teufels klare Bilder: eine zerknüllte Bibelseite, ein streunender Pudel, der Kelch aus Auerbachs Keller. Die Kunst der Illusion ist groß und verführt auch den Zuschauer schnell. Überall gibt es etwas zu sehen, an allen Ecken etwas zu entdecken. Da tanzen rote Mönche über die Szene, kullern sich bald allerhand Nackedeis durch die Walpurgisnacht, wird mit Spiel und Video eine ganze Welt erschaffen wie im Bilderbuch.
Mächtig liegt darüber Boitos Musik. Dirigent Andrea Battistoni lässt es mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden mächtig krachen. Das Orchester braust anfangs fast zu laut auf, sodass die feinen Nuancen, das typische Staatskapell-Prickeln, in der enormen Wucht untergehen. Die ruhigeren Passagen entfalten dafür eine nur umso emotionalere Wirkung. Die Liebesszene zwischen Faust und Gretchen etwa oder Fausts sehnsuchtsvolle Suche nach allumfassender Erkenntnis und Harmonie in allen Dingen.
Als Faust ist Pavol Breslik „seinem“ Teufel stimmlich ebenbürtig. Gibt er sich zunächst noch dem wilden Spiel der Begehrlichkeiten hin, so findet er im illusorischen Zusammentreffen mit seiner Elena nach der Pause schließlich einen Moment der wahren Glückseligkeit, in dem Mephisto selbst für einen Augenblick zum Verführten wird. Die Schauspielerin Martina Gedeck wandelt immer wieder als weibliches Pendant und Erzählerin in des Teufels Schatten und verleiht der Oper mit gesprochenem Wort eine weitere Ebene, die allerdings verzichtbar wäre, zumal sie anfangs einen argen Bruch erzeugt.
Für wahre Gänsehautmomente sorgen hingegen die Duette: Faust und Gretchen, die Marjukka Tepponen mit einem warmen, sehnsuchtsvollen Sopran und viel Sinnlichkeit ausstaffiert. Später Faust und Elena – deren Zusammentreffen Pavol Breslik und Clara Nadeshdin zu einem der schönsten und berührendsten Momente des Abends ausgestalten. Ein ganz großer Teil des Zaubers jedoch ist den Sängern des Sächsischen Staatsopernchors und des Kinderchors der Semperoper Dresden (Jan Hoffmann, Claudia Sebastian-Bertsch) zu verdanken, die vom ersten bis zum letzten Bild einen wahren Klangrausch bescheren und so zu einer tragenden Säule der Aufführung werden.
„Braucht es wirklich Krieg, um den Frieden zu schätzen zu wissen?“, flimmert denn vielleicht DIE zentrale Frage aus Goethes Drama auf, bevor Faust im Epilog zur göttlichen Erlösung anhebt – und Mephisto wie von Neuem in den Kreislauf allen Seins taumelt. Szenisch verarbeitet wird dieser Schluss als ein riesiges Spiel im Spiel, das den Erdenlauf ironisch spiegelt. Musikalisch entfaltet sich im Finale einmal mehr der ganze Zauber dieses Opernabends, großes Drama, verheißungsvolles Brodeln im Orchester, flammende Stimmen. Gänshaut und Herzklopfen bis zum letzten Ton. Dann tosender, minutenlanger Applaus. Herrlich!
Info: Arrigo Boito „Mefistofele“ an der Semperoper Dresden, wieder am 1./6./10./13./18./24. Oktober 2024