Gespaltene Erinnerungen

Geteilter Himmel, Staatsschauspiel Dresden
Dreifache Rita, halber Spaß unter geteiltem Himmel in der Regie von Tilmann Köhler am Staatsschauspiel Dresden (Foto: PR/David Baltzer).

„Geteilter Himmel“ am Staatsschauspiel

Eine erwachsene Dame im grünen Kleid sitzt am Rand der Dresdner Schauspielhausbühne im hellen Licht. Mit der entspannten Geste der Erfahrung blickt sie auf ihr Leben zurück und fragt: „Wäre ich unter anderen Verhältnissen ein anderer geworden?“ Eine Frage, die sich wohl die allermeisten in diesem Raum, in Dresden im Jahr 2013, selbst schon gestellt haben. Es ist die Schlüsselfrage des Abends, eine ebenso persönliche wie politische Frage, deren Antwort immer irgendwo zwischen Hoffnung und Realität schwebt und nie richtig sein kann. Diese Frage ist auch der Schlüssel zu Felicitas Zürchers und Tilmann Köhlers Bühnenfassung von Christa Wolfs Erzählung „Der geteilte Himmel“ (1963), die am 19. Januar – 50 Jahre nach Erscheinen des gleichnamigen Buches – im Dresdner Schauspielhaus Uraufführung feierte.

In der Dresdner Bühnenfassung wird Wolfs berühmte Erzählung von dem Ende einer Liebe vor dem Hintergrund der Deutschen Teilung zu einem Konglomerat aus Erinnerungen. Der Prolog zu dieser Inszenierung entstammt Christa Wolfs Romanen „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ (2010) und „Nachdenken über Christa T.“ (1968) und erweitert die eigentliche Erzählung um die Perspektive der heutigen, erkennenden Rückschau. Diese Rückschau, auch das Verschwimmen von Erinnerungen mit fortschreitender Zeit wird zum vorherrschenden Thema des Abends. Regisseur Tilmann Köhler stellt dabei gleich drei Rita-Figuren gegenüber. Er ergänzt die beiden bereits in der literarischen Vorlage angelegten Erzählebenen, die aktuelle Rita im Krankenhaus (Annika Schilling) und das frühere „Mädchen Rita“ (Lea Ruckpaul), also noch um eine dritte: die heutige Rita, verkörpert durch Hannelore Koch, die auch schon den Prolog zum Stück sprach.

Vor dem Schatten der Romanhandlung, die ja von einem jungen, geteilten Liebespaar handelt, wechseln die Erinnerungen der Figuren wie bunte Traumfetzen auf der Bühne. Mal spricht die Rita im Krankenhaus schwer atmend vom Erlebten, mal spielt das noch unbeschwerte Mädchen zusammen mit ihrem Manfred fangen, dann wieder blendet die heutige Rita ihre Erinnerungen an längst vergangene Tage ein. Immer wieder blickt die Inszenierung vor und zurück, wechselt dabei die Perspektiven der Rückschau auf das Erlebte. Ernsthafte Szenen wechseln mit komischen Situationen und Luftballons werden zu bunten Botschaftern vergangener Illusionen. Mal hängen die Wolken des einfachen, weißen Tuch-Himmels über der schrägen Bühnen-Ebene (Karoly Risz) höher, mal fallen sie tief und drohen die Figuren in ihrer modern bequemen Alltagskleidung (Kostüm: Susanne Uhl) fast zu ersticken. Zwischendurch dient das riesige Himmelstuch wieder als Fläche für geträumte Videoprojektionen, während sich der sonst leere Bühnenraum erneut mit Geschichten füllt.

Unter diesem Zelthimmel spielt jeder uns alle und hin und wieder auch Christa Wolf. So rackert sich Lea Ruckpaul beispielsweise beständig daran ab, in der Rolle des „Mädchens Rita“ endlich erwachsen zu werden. Sie zeigt dabei über weite Strecken eine schlecht dosiert selbstbewusste Rita, gibt sich als zartes 19-jähriges Mädchen eher grob als weiblich und spielt die von Christa Wolf als emotional beschriebene Figur mit erstaunlich kühler Distanz. Alle Emotionalität, alle Verzweiflung, aber auch selbstbewusste Entschlossenheit der Rolle bleibt dagegen Annika Schilling überlassen, die als immer noch junge, aber nach der Flucht ihres Verlobten Manfred im Krankenhaus liegende Rita, aus kurzem zeitlichen Abstand auf ihre Liebesgeschichte zurückblickt. Schilling nimmt den Zuschauer ebenso mit in ihre Geschichte hinein, wie die bedächtig aus der zeitlichen Distanz und heutiger Erfahrung zurückschauende Erzählerin Hannelore Koch. Unwillkürlich fragt man sich dabei, warum Köhler es nicht bei den beiden Perspektiven des Buches belassen wollte.

Dennoch ist sein Ansatz, die Erzählung in einer Mischung aus Zeit- und Perspektivsprüngen von heute aus zu betrachten, pfiffig. Das gibt Raum, eigene Erfahrungen der vergangenen 20 oder 50 Jahre zu hinterfragen und holt Christa Wolfs Erzählung elegant ins Jahr 2013, ohne sie zu entstellen oder zu verfremden. Köhler bewegt sich damit andererseits aber auch vom Kern der Vorlage, der Liebe unter geteiltem Himmel, weg. Die Bühnenfassung läuft so ständig Gefahr, den roten Faden, den Christa Wolf einst webte, in der mehrfach geschachtelten Rückschau zu verlieren. In der Aneinanderreihung von Erinnerungen kommt die Tragik der Protagonisten, die bei Christa Wolf so herrlich mitfühlen lässt, auf der Bühne zu kurz. Zwar lässt Matthias Reichwald den abgeklärt liebenden, aber am DDR-Alltag verzweifelnden Manfred in all seiner Subtilität überzeugend lebendig werden. Doch plauzen ihm die starken Schlussworte Ritas am Ende so schroff wie stocksteife Phrasen in einem sozialistischen Zeitungsbericht entgegen: „Der Himmel teilt sich zu allererst.“

Die Besonderheit der historischen Situation, Ritas ehrliche Hoffnung auf eine neue Zeit zwischen Kriegsende und Mauerbau ist dabei kaum herausgearbeitet. So droht die Inszenierung immer wieder an ihrer Vorlage vorbei, ins Beliebige abzudriften. Am Ende ist das Spiel mit den Erinnerungen noch immer dasselbe, wie am Anfang, denn bloße Rückschau, auch reflektierende, lässt keinen Raum für Entwicklung nach vorn. Die Frage nach der richtigen Entscheidung zwar noch im Gedächtnis bleibt Christa Wolfs Erzählung letztlich doch präsenter als dieser Theaterabend.

„Der geteilte Himmel“, am Großen Haus Dresden, wieder am 21. und 30. Januar sowie am 07. Februar, jeweils 19.30 Uhr

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Die zwei Seiten des „Liliom“

Liliom, Staatsschauspiel Dresden
Torsten Ranft (vorn) ist Liliom am Staatsschauspiel Dresden (Foto: PR/Matthias Horn).

„Liliom“ am Kleinen Haus Dresden

„Auf jeden Schrecken ein Bier“, sagt der Schausteller Liliom (Torsten Ranft) und lässt die leere Flasche die schräge Bühne im Kleinen Haus Dresden hinunterrollen. Die Hauptfigur in Franz Molnars gleichnamigen Stück ist ein Raubein, ein armer Schlucker und Schlawiner, der seine Freundin Julie (Cathleen Baumann) schlägt und nie Geld hat. Eine traurige Figur, die erst im Himmel zum Menschen wird.

Franz Molnars „Liliom – Eine Vorstadtlegende in sieben Bildern“ hat es schon bei der Uraufführung 1909 in Budapest nicht leicht gehabt. Molnars Stück – irgendetwas zwischen sozialem Drama und Tragikkomödie – floppte. Und auch die Premiere der deutschsprachigen Übersetzung von Alfred Polgar in Berlin 1912 war kein großer Erfolg. Erst die Aufführung am Theater in der Josefstadt Wien lief besser. Von da an wurde „Liliom“ zum Selbstläufer. Hans Albers hat es allein 1800 Mal in Berlin gespielt, das Sujet wurde mehrfach verfilmt und Vorlage für das Musical „Caroussell“.

So richtig verruchte Rummelatmosphäre will allerdings in der Inszenierung von Hausregisseurin Julia Hölscher am Staatsschauspiel Dresden nicht aufkommen. Das überwiegend düstere Bühnenbild (Esther Bialas) beschränkt sich hier auf jene Bierflaschen auf schräger Bühne und einen großen Kasten, ein Schrank mit Ziehharmonikatüren, der auf der Schräge beständig auf- und niederfährt und sich hin und wieder für musikalisch durchaus stimmungsvolle Szenen öffnet. Das darin versteckte bunte Licht und eine kleine Kapelle sind ist alles, was hier ans Schaustellermilieu erinnert.

Ansonsten sind die Figuren im Mittelpunkt der Szenerie. Sie zeigen eine kaputte Gesellschaft kleiner Leute am Rande des Lebens. In abgewetzten Hemden hecken die Männer Pläne aus, um an Geld zu kommen, während die kurz berockten Mädels (Kostüm: Ulli Smid) sich über die Liebe austauschen. Marie (Annika Schilling) scheint es mit ihrem Wolf dabei noch besser getroffen zu haben, als Julie mit ihrem Liliom. Das Spiel dieser drei Hauptfiguren wirkt vor allem zu Beginn allerdings noch zu wenig lebendig, ist weder berührend noch zieht es den Zuschauer hinreichend in das Stück hinein. Torsten Ranft gibt den Zyniker Liliom in der ersten Hälfte noch etwas farblos, eigentlich emotionale Stellen wirken dagegen eher künstlich akzentuiert. So entsteht eine Distanz, die schnell in Langeweile umschlagen kann. In den dialoglastigen Szenen des Anfangs wirkt der Wiener Dialekt der deutschen Übersetzung von Alfred Polgar zudem allzu angestrengt, Dialektsprache wechselt ungeschickt mit Hochdeutsch.

Doch dann öffnet sich der große Kasten wieder einmal, die bunten Lichter erstrahlen und die Musik der Einmann-Kapelle (Tobias Vethake) erfüllt den Raum, rauschhafte Szenen spielen sich ab und Benjamin Höppner tanzt als Ficsur plötzlich nackt im Schrank. Das ist verstörend und überzogen, aber immerhin passiert nun endlich etwas. Auch als Liliom anschließend seinen Raubüberfall plant, nimmt das Stück langsam Fahrt auf. Torsten Ranft hat die kühle Distanz des Anfangs nun gänzlich überwunden und bringt die Figur Liliom in ihrer ganzen Ambivalenz auf die Bühne. Als dieser im hellen Licht stirbt, später wieder unter Engelsmusik im Himmel erwacht und von seiner ungeborenen Tochter erfährt, wird es sogar für kleine Momente lang berührend.

Ansonsten sind die sieben Bilder des Stückes bis zum Schluss kaum voneinander zu unterscheiden. Die Inszenierung bewegt sich bis auf diese wenigen prickelnden Momente überwiegend im Nebulösen, Ungreifbar-Abstrakten. Und die tragische Figur des kleinen Rummelschaustellers „Liliom“ verschwindet ins Dunkel, als hätten sich die Türen des hell erleuchteten Kapellenschränkchens auf der Bühne eben wieder geschlossen.

Kleines Haus Dresden, wieder am 11.6., 26.6., 03.07., jeweils 19.30 Uhr

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Was Sie hier sehen ist Kleist

„Das Erdbeben in Chili“ am Staatsschauspiel

Armin Petras‘ Bühnenübertragung von Kleists tragischer Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ist im Moment in einer ebenso rasanten wie emotional aufgeladenen Inszenierung im Kleinen Haus das Staatsschauspiels Dresden zu sehen. Zu ruhig rezitierten, einander und dem Publikum entgegengeworfen, geschrienen und gesungenen Passagen des Textes sieht der Zuschauer fast zwei Stunden lang, wie die Darsteller sich abarbeiten – an den Kulissen, dem Text und sich selbst.

So lässt Petras die Naturkatastrophe von seinen Darstellern mit Hilfe großer Styroporplatten nachstellen, bis das Bühnenbild von Natascha von Steiger mit Trümmern übersät ist. Eine weitere interessante inszenatorische Idee sind die selbstgedrehten Videoclips der Schauspieler, die ihre ganz persönliche Definition von Glück darstellen und vor deren Hintergrund die folgende menschliche Katastrophe umso niederschmetternder wirkt. Eigentümlich unter die Haut geht auch Christian Friedels gesungene Interpretation von „Purple Rain“, die das kurze Liebesglück des tragischen Liebespaares untermalt.

Matti Krause und Anne Müller als Jeronimo und Josephe wirken vor allem mit ihrer drastischen körperlichen Performance, die ganz ohne Dialoge auskommt. Auch Annika Schilling und Christian Friedel als zweites Bühnenpaar und Wolfgang Micheler als Erzähler überzeugen bei der atemlosen Hatz durch das schicksalhafte Geschehen.

Es wird viel gerannt, geturnt und getanzt und am Ende der Aufführung sind nicht nur die Schauspieler zerschunden und lädiert. Auch die Zuschauer wirkten verstört in der besten aller möglichen Bedeutungen. Petras Inszenierung zeigt, was modernes Theater heute sein kann. Ironisch gebrochen und ernsthaft, körperlich und emotional anstrengend. Und sehr, sehr aufregend.

Annett Baumgarten

Theatertipp: „Das Erdbeben in Chili“ wieder am 17.5., 13.6. und 17.6. am Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

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