Bedeutungsvolles Nichts

Janne Teller Nichts, Staatsschauspiel Dresden
Ein Gruppe von Jugendlichen ist mit Nichts auf der Suche nach Bedeutung (Foto: PR/David Baltzer).

Janne Tellers „Nichts.“ am Staatsschauspiel

Am Anfang steht die Videoprojektion. Was die Zuschauer oben auf der Leinwand sehen, passiert unten in der Horizontalen. Die Ebenen werden so auf effektvolle Weise verkehrt. Alle Beteiligten liegen am Boden, am Anfang, als Pierre Anthon aus der Klasse 7a geht. Er entgleitet seinen Kameraden förmlich ins Ungewisse, ins Nichts. Die dänische Schriftstellerin Janne Teller schuf mit ihrem Jugendroman „Nichts. Was im Leben wichtig ist“ bereits im Jahr 2000 die Vorlage für das Theaterstück, das am Kleinen Haus in Dresden am 31. März Premiere feierte. Es handelt von Pierre Anthon, der sich an einem heißen Sommertag nach den Ferien plötzlich in seinen Pflaumenbaum zurückzieht und behauptet, dass nichts auf der Welt eine Bedeutung hat. Und schon sitzt er da, hoch oben auf den auf der Bühne sorgfältig gestapelten Holzpaletten (Bühne: Karoly Risz). Im Theater provoziert er das Publikum mit dem Mikrophon in der Hand, er bezieht die Zuschauer so direkt mit in das Geschehen ein, viel wirkungsvoller als im Buch.

Hausregisseur Tilmann Köhler hat den umstrittenen, hochphilosophischen und mittlerweile in 13 Sprachen übersetzten Roman Janne Tellers mit den Studentinnen und Studenten des Schauspielstudios Dresden auf jugendlich-frische Art für die Bühne des Dresdner Staatsschauspiels inszeniert. In der folgenden Szene zeigt die Videoprojektion die acht jungen Schauspieler von oben, wie sie wie Ameisen hilflos vor dem Nihilismus ihres früheren Klassenkameraden hin- und herrennen. Schließlich geht es um viel, Pierre Anthons gewagte Thesen vom allumspannenden Nichts führen das Leben ad absurdum, die Jugendlichen wollen daher nun seine Sprüche ad absurdum führen – und beginnen, bedeutsame Gegenstände für einen „Berg aus Bedeutung“ zu sammeln. Zunächst im Publikum. Später soll dann jeder Einzelne von ihnen ein ganz persönliches Opfer bringen. Mit den grünen Sandalen von Agnes beginnt es – und steigert sich schon bald bis ins Geschmacklose. Zum Schluss muss Sophie ihre Unschuld opfern und Jan-Johan seinen rechten Zeigefinger. Das anfangs noch unschuldige Spiel gerät außer Kontrolle.

Die jungen Schauspieler bringen dieses literarische Gedankenspiel Tellers unwahrscheinlich energiereich und voll Erfindungsreichtum auf die Bühne. Immer wieder beziehen sie das Publikum mit in ihr rasantes Spiel ein, verblüffen mit ungeheurer Spontanität und zeigen dabei spürbar Freude an der Improvisation. Es fällt schwer, sich dieser Schnelligkeit und dem Wahnsinn des Stückes zu entziehen. Gibt es zu Anfang noch einige Lacher, herrscht später, als Jan-Johan seinen Finger opfern soll, auf einmal bedächtige Ruhe im Saal. Schon wird diese selbstironisch vom Ensemble gebrochen, mit der offenen Frage, wer von den Darstellern auf der Bühne denn nun Jan-Johan sein soll. Denn die Rollen – und das ist ein geschickter Schachzug Köhlers – sind zu keiner Zeit festgeschrieben. Pierre Anthon wird zum Hamster, Agnes zu Pierre Anthon und so weiter. Jeder ist jeder und alle sind alles, oder eben nichts. Den Schauspielstudenten ringt das darstellerische Höchstleistungen ab, sie müssen jeder für sich in allen Facetten brillieren, permanent von Figur zu Figur schlüpfen. Obwohl sie das mit Bravour meistern, ist es für den Zuschauer doch an mancher Stelle auch verwirrend. So wird der Roman vielleicht ein bisschen zu wörtlich genommen: Nichts bleibt, wie es war. Selbst Requisiten wandern wie von Geisterhand auf die Bühne, wechseln ihre Bedeutung, kreativ wird mit den einfachsten Mitteln gespielt. Zweifelhaft ist dabei jedoch, ob tatsächlich jeder versteht, was beispielsweise ein „Dannebrog“ (in Dresden ersetzt durch einen blauen Slip) ist und warum diese dänische Nationalflagge für einen Jugendlichen von etwa 14 Jahren so bedeutungsschwer sein soll. Hier driften dänische Vorlage und sächsisches Theater ein bisschen auseinander.

Die Sucht nach Bedeutung gelangt dann schließlich auch auf der Bühne zum Höhepunkt, als Jan-Johan seinen Finger opfern muss. Trickreich wird hierbei das Publikum aus seiner Schockstarre geweckt und wiederum direkt ins Geschehen hineingezogen, als ein spontaner Gitarrenwettbewerb auf der Bühne entscheiden soll, welcher Schauspieler Jan-Johan mimen wird. Die Entscheidung – und das erscheint genial – liegt dabei ganz allein beim Publikum, das per Applaus für den einen oder den anderen abstimmen wird, und sich so auch ein Stück weit mitschuldig macht am darauffolgenden Verlust des Fingers. Reflektierende Distanz unerwünscht. Jeder ist alles oder nichts.

Dass die Inszenierung sich dabei auch allzu gern mal vom Text der Romanvorlage abhebt und szenische Freiheiten ausgiebig auskostet, macht einen gewissen Reiz des Ganzen aus. Es kann allerdings dann zu Problemen führen, wenn man die Romanvorlage nicht kennt. Sehr dicht wird es dabei vor allem am Schluss, wo Journalisten aus aller Welt zu den Schülern kommen, um ihren Berg aus Bedeutungsvollem als Kunstwerk zu begutachten. Auch hier wird das Publikum wieder auf die Bühne zitiert und somit Teil der gaffenden Masse. Doch allzu schnell ist dieser Ruhm verflogen und der Berg wieder vom Nichts bedroht. Was dann kommt, passiert im Zeitraffer. Unbelesene werden spätestens hier überfordert sein: Massenkampf mit Todesfolge, der Berg wird angezündet und nur die Asche bleibt vom einstmals Bedeutungsvollen noch übrig. Erst hier kommt die Videoprojektion dann wieder zum Einsatz, weit weniger wirkungsvoll als zu Beginn zeigt sie dieses Mal jedoch nur auf eine Person, die erledigt am Boden liegt – oben wie unten, die Ebenen scheinen nun gewaltvoll geglättet. Die Moral von der Geschichte bleibt im Roman wie am Theater jedem selbst überlassen – es sei denn man hält es wie Pierre Anthon.

Staatsschauspiel Dresden, Kleines Haus, wieder am 7.4., 13.4., jeweils 19.30 Uhr,

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Wer Macht hat, hat auch recht

„Der zerbrochene Krug“ am Staatsschauspiel

Hoch waren die Erwartungen an Roger Vontobels zweite Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden, nachdem sein „Don Carlos“ sich zum gefeierten Dauerbrenner entwickelt hatte.  Dass er danach mit Kleists „Zerbrochenen Krug“ ein Lustspiel inszenieren würde, hatte wohl kaum einer erwartet.

Kleists Lustspiel behandelt einen Stoff, aus dem man auch eine Tragödie machen könnte. Denn die Geschichte des Dorfrichters Adam, der über ein Verbrechen zu Gericht sitzt, dass er selbst begangen hat, erscheint in ihrer Absurdität immer auch beklemmend. Denn Recht haben hier zunächst diejenigen, die Macht über andere haben.

Genau dieser Aspekt scheint Vontobel besonders fasziniert zu haben. Vielfältig sind die Bedrohungen, die Machtdemonstrationen und Machtgefällte, die sich während des Prozesses unter den Dorfbewohnern entfalten. Denn es geht hier nicht um einen profanen Krug, sondern um Gewalt und Machtmissbrauch, um sexuelle Nötigung und Erpressung.

Das erste Drittel der Inszenierung ist ganz im Kleistschen Sinne noch sehr slapstickartig gehalten. So werden die unterschiedlichen Versionen der Vorgänge, die zur Zerstörung des Krugs führten, nicht einfach erzählt, sondern szenisch nachgestellt. Das anfangs etwas altbacken wirkende Bühnenbild von Magda Willi entfaltet hier seine volle Wirkung, denn jeder Gegenstand, jedes Gestaltungselement des vollgestopften Raumes hat hier seinen Zweck. Rasante Szenen folgen aufeinander; ständig passiert etwas auf der Bühne; es wird gerannt, man stürzt, kämpft und rangelt miteinander.

Das Publikum lacht und applaudiert und bemerkt darüber kaum, den erzählerischen Sog, der die Geschehnisse zunehmend drastischer, düsterer und gefährlicher macht. Unversehens eskaliert die Gewalt, vor allem gegen den Angeklagten Ruprecht Tümpel, den Sebastian Wendelin als herrlich naiven Simpel anlegt.

Auch Burghart Klaußners Adam, der sich zunächst mit albernen Ablenkunsmanövern der Lächerlichkeit preisgibt, durch Charme, Schmeichelei und Betulichkeit seine Felle zu retten versucht, wird zunehmend polternder, reizbarer, ja gefährlicher.

Je näher man der Lösung des Rätsels kommt, desto mehr kann das Ensemble auftrumpfen. Als Zuschauer rückt man unwillkürlich auf dem Sitz nach vorn, wenn Sonja Beißwenger als gestrenge Gerichtsrätin im Businesskostüm sich langsam selbst im Gespinst der Lügen zu verirren droht, Marthe Rull (Hannelore Koch) ihre Tochter immer mehr unter Druck setzt und das Mädchen (gespielt von Karina Plachetka) schließlich zusammenbricht und nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Rache einfordert.

Die abschließenden Erklärungen gestalten sich dann doch etwas zu langwierig, nach all der Rasanz nimmt sich die genaue Erklärung der Abläufe, die den Krug zu Boden gehen ließen etwas zu statisch aus.

Insgesamt  ist Roger Vontobel nicht der ganz große zweite Wurf gelungen, doch sein „Zerbrochener Krug“ ist mitreißend inszeniert und gespielt, hervorragend besetzt und intellektuell anregend.

Annett Baumgarten

„Der zerbrochene Krug“ am Staatsschauspiel Dresden, wieder am 18.3., 19.00 Uhr, 27.3., 19.30 Uhr, 9.4., 19.30 Uhr

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Die gehässige Hedda

Ibsens „Hedda Gabler“ am Staatsschauspiel

„Der große Jammer dieser Welt ist, dass so viele Menschen nichts anderes tun als dem Glück nachzujagen, ohne es zu finden.“ (Henrik Ibsen)

Auf den ersten Blick könnte Henrik Ibsens „Hedda Gabler“ fast ein wenig an Effi Briest erinnern. Aber nur fast. Denn während die junge Effi ihrem zwar wohlständigen dafür aber allzu trögen Ehealltag per Affäre zu entkommen versucht, sieht Hedda gar keinen Ausweg aus der selbstgewählten Langeweile. Zwar ahnt Ibsens Protagonistin, dass das Leben mehr für sie hergeben könnte, doch ist sie nicht fähig herauszufinden, was davon sie genau haben will.

Regisseur Tilmann Köhler zeigt Hedda in seiner Inszenierung am Staatsschauspiel Dresden (Neufassung von Thomas Freyer) daher auch als modernen Überflussmenschen, der von allem zu viel hat, nichts mehr ernst nehmen kann und am Ende vor allem an sich selbst scheitert. Der Spiegel auf der Bühne (Karoly Risz) ist hier nicht nur raffinierte Kulisse, sondern wird gleichsam zum ironischen Selbstzweck – als Spiegel einer Gesellschaft, die im Überfluss ihrer Möglichkeiten zu ertrinken droht.

Ina Piontek lässt die schwierige Figur der frustriert gelangweilten, stur an ihrem Platz verharrenden Hedda Tesmann (geborene Gabler) dabei zu einem Menschen werden, den man irgendwie zu kennen glaubt. Anstatt die Tristesse mit dem chaotischen Lebemann Eilert Løvborg (herrlich verpeilt: Christian Erdmann) zu betäuben (der Effi-Weg), beginnt sie – unfähig, sich mit ihrem Alltag zu arrangieren, noch daraus auszubrechen – ein verhängnisvolles Machtspiel, das Løvborg schlussendlich ins Verderben stürzen wird. Christian Friedel gibt den Hedda-Gatten Jørgen Tesmann als Antifigur zu Løvborg phasenweise fast zu jugendlich, gewollt-komisch, mal naiv, immer aber lebensfroh, sodass die Figur weit weniger langweilig als ihr Ruf daher kommt.

Am Ende entspinnt sich auf der Bühne ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht, in dem sich Hedda als Außenseiterin ohne Lebenssinn entblößt. Das alles passiert auf witzig ironische Weise, entwickelt sich allerdings in der ersten Hälfte noch zu langatmig. Auch die von Ibsen bewusst angelegten Dreiecksbeziehungen zeigen sich in der Inszenierung nur in Andeutungen. Die tiefgreifende Psychologie des Originals ist nur noch schemenhaft erkennbar. So bleibt das Stück bis zum Schluss vor allem ein heiterer Spiegel der Gesellschaft, der in erster Linie von der schauspielerischen Leistung des Ensembles lebt. Für einen unterhaltsamen Theaterabend reicht das jedoch allemal.

Nicole Laube

(erschienen in Hochschulzeitung „ad rem“, vom 25. Januar 2012)

Dresden, Kleines Haus, wieder am 25.01.2012, um 19.30 Uhr und am 08.02.2012, 19.30 Uhr

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Trübe Zeit für Zauberinnen

Händels „Alcina“ an der Semperoper

Georg Friedrich Händels Oper von der Zauberin „Alcina“ wird in der Inszenierung von Jan Philipp Gloger zu einer hochaktuellen Tragödie (Foto: Semperoper/Matthias Creutziger) umgeschrieben. Um das 1735 noch zur Konvention gehörende Happy-End erleichtert, erzählt das Musikdrama an der Semperoper die Geschichte der lebensfrohen Zauberin „Alcina“, die mittels ungezwungen gelebter Leidenschaft brave Ehemänner wie Ruggiero in ihr Reich des Genusses entführt. Als dessen Frau Bradamante daraufhin ins ungezügelte Reich der Alcina vordringt, um ihren Gatten zurückzuerobern, sieht der sich zwischen den gegensätzlichen Lebensentwürfen beider Frauen hin- und hergerissen.

Vor mächtigen weißen Wänden, die auf der Bühne im Takt von Händels lebhafter Musik tanzen (Bühne: Ben Baur), entspinnt sich dabei ein ebenso sehens- wie hörenswertes Opernerlebnis, das – mit Ironie und Witz gespickt – berührt und viel Raum zum Nachdenken lässt. Amanda Majeski brilliert als Alcina, verleiht der Figur gleichfalls selbstbewusste wie nachdenkliche Züge und kann das Publikum in den schmerzerfüllten Partien des zweiten Teils als traurige, verwandelte Zauberin schließlich gänzlich erobern. Nadja Mchantaf (Morgana) und Simeon Esper (Oronte) geben sanglich wie darstellerisch ein durch und durch überzeugendes Pärchen auf der Bühne und auch Elena Gorshunova gehört zu den großen Stimmen des Premierenabends.

Begleitet von der Sächsischen Staatskapelle, unter der Leitung von Rainer Mühlbach, wird das Ganze schlussendlich zu einer runden Inszenierung, die auch kleine Farblosigkeiten im ersten Teil leicht vergessen lässt.

Nicole Laube

(erschienen in Hochschulzeitung „ad rem“ vom 02.11.11

Dresden, Semperoper wieder am 4.11., 10.11., je 19 Uhr

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Wenn Phönix aus den Trümmern steigt

„Das steinerne Brautbett“ am Staatsschauspiel

Das Schauspielhaus ist zur Uraufführung „Das steinerne Brautbett“ nach dem Roman von Harry Mulisch (1958, für die Bühne eingerichtet von Regisseur Stefan Bachmann und Felicitas Zürcher) nicht ausverkauft. Anders als bei der „Turm“-Premiere vor einem Jahr interessiert sich kaum jemand für dieses Dresden-Drama, denn wohl kaum einer kennt dessen literarische Vorlage. Das ist erstaunlich, handelt sie doch von der konfliktreichen Begegnung zwischen Ursache und Wirkung, Täter und Opfer nach dem Angriff auf die Stadt im Zweiten Weltkrieg, bei dem es keine Gewinner, nur Verlierer gab. Der ehemalige amerikanische Bomber-Pilot Norman Corinth 1956 fliegt zu einem Zahnarztkongress ausgerechnet wieder in der Stadt ein, die er 1945 (mit) bombardierte: in Dresden. Der verhängnisvolle Kongress wird angesichts seiner Erinnerungen an den Krieg und den Begegnungen mit den Einheimischen schnell zur Nebensache – und bald ist klar, dass nicht nur die Mauern der Stadt seitdem in Trümmern liegen.

Dabei – und das ist symptomatisch für Mulisch – geht es um mehr als Dresden und seinen Mythos, sind es doch ebenso philosophische wie universelle Fragen, die hier behandelt werden. Vermeintlich klare Tatsachen der Geschichtsschreibung werden den Gefühlen und individuellen Erinnerungen ihrer Protagonisten gegenübergestellt und somit ein hochphilosophischer Denkprozess in Gang gesetzt. Antike Gesänge zeigen Erinnerungen und Rückblenden, verleihen dem Thema damit aber auch überzeitliche Bedeutsamkeit. Und dennoch bleibt die Bühnenaufführung anno 2011 strikt im Jahr 1956 – und in Dresden – verhaften.

Dabei ist die Inszenierung niemals nur ernsthaft, setzten Musik und Situationskomik an vielen Stellen gelungene Kontrapunkte – etwa zu den Videoprojektionen vom zerstörten Dresden. Wolfgang Michalek verleiht der Hauptfigur Corinth die nötige Fassade: seelische Gebrochenheit und Zweifel blinzeln da immer wieder hinter einem von Narben entstellten, eisernen Gesicht hervor. Es geht um politische Doktrin, um Proklamationen, die zeitweise als wahr galten und sich nach langer Zeit schließlich als falsch oder zumindest zweifelhaft herausstellen. Letztere sind längst nicht mit dem letzten Kriegsfeuer verloschen, wie Karina Plachetka in der Figur der Hella darstellt. Sie lässt sie im Spannungsfeld zwischen Vollweib und verbissen-verletzbarer Kommunistin erscheinen. Ahmad Mesgarha mimt vor allem Pensionsinhaber Ludwig romangetreu als zynischen Gastgeber im Schifferpulli. Insgesamt ein starkes Ensemble, in dem dank dem zeitlichen Abstand von über 50 Jahren auch an vielen Stellen die Ironie mitspielt.

Das alles geschieht in der Bühnenversion sehr textnah auf einer Gerüstkonstruktion (Bühne: Simeon Meier), die auffallend an die Turmkulisse erinnert, in diesem Fall allerdings vielmehr die seelische Leere der von der Geschichte gezeichneten Charaktere repräsentiert. Hella, jene Gästeführerin, die Corinth gleich am Flughafen in Empfang nimmt, bleibt dabei als personifiziertes Dresden nahezu omnipräsent. Die von ihr ausgehende Erotik ist hier kein billiges Stilmittel, sondern dem Roman getreu dargestellt, setzt Mulisch den Krieg darin doch auch mit dem Wahnsinn der Erotik in jenen Momenten gleich, in denen selbst das Verwerfliche erstrebsam wird.

So bringt Bachmann mit seiner Inszenierung von Mulischs Roman insgesamt starkes Theater auf die Bühne, in dem Text, Ensemble und Gestaltung eine überzeugende Symbiose bilden. Dem Zuschauer bleibt am Ende der fast drei Schauspielstunden viel Brot für Reflexionen, die Erinnerung an einen ebenso spannenden wie unterhaltsamen Abend – sowie die Lust, das Buch vielleicht doch zu lesen …

Mulisch „Das steinerne Brautbett“ im Großen Haus wieder am 08.10. und 20.10. jeweils 19.30 Uhr

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Pathos statt Politik

Verdis Maskenball an der Semperoper

„Mit der Demaskierung offenbart sich die Katastrophe – ein Mord geschieht auf einem Fest vor den Augen aller, die sich scheinbar sicher auf dem spiegelglatten Gesellschaftsparkett bewegen; jeder perfekt in seiner Rolle als Teil eines räderwerkartigen Systems. Dieses kollabiert, als das Getriebe ins Stocken gerät, hervorgerufen durch menschliche Regungen abseits eingeschliffener Bahnen“, säuselt der Einleitungstext zur aktuellen Verdi-Inszenierung auf der Opernwebseite verheißungsvoll.

Von solch hochaktuell-spannender Brisanz ist in der Inszenierung von Elisabeth Stöppler (Foto: PR/Matthias Creutziger) jedoch nichts zu erkennen. Hier geht es um Liebe, Gefühl, Pathos, anstatt um das Schwanken zwischen Hoffnung und Ausweglosigkeit – kaum verletzte Eitelkeiten, keine vermeintlich intakte Gesellschaft, die auf der hiesigen Maskenballbühne ins Wanken gerät. Dabei scheint wenigstens die Reduzierung eines eigentlich hochpolitischen Stoffes auf gefälligere Lesarten symptomatisch für Verdis Oper zu sein. Schließlich wurde dank Zensur bereits anno 1790 aus dem schwedischen König Gustav III. die eher belanglose Hauptfigur Riccardo, während Stockholm als Schauplatz gegen Boston weichen musste. Vielsagend, dass in Dresden – im Gegensatz zu anderen Opernhäusern – auch heute noch die politisch entschärfte Namensversion auf der Bühne regiert.

Für das Verständnis spielt es deshalb auch keine Rolle, ob Stöpplers „Maskenball“ nun auf modern-abstraktem Theaterparkett oder vielleicht gar im Hollywoodstudio (Bühne: Rebecca Ringst, Annett Hunger) tanzt: hier geht es schließlich um empfindsame Innerlichkeiten – die dem Komponisten allerdings eher Mittel als Ursache zum Zweck gewesen sein dürften – und wertvolles Potenzial der Handlung wird dabei vergeudet. So spiegelt die Bühne optisch nur wider, was die Inszenierung an Inhalt entbehrt: moderne Abstraktionskunst mit Bezug zum 21. Jahrhundert.

Spannende Interpretationsansätze sind kaum auszumachen. Gestalterisch dümpelt das Ganze vor sich hin, einige Sounddesign-Experimente wirken mehr störend als sinnvoll – und während die Bühne rauf und wieder runter fährt, das Licht mal bunt, mal düster scheint, ist der verräterische Mord eigentlich von Anfang an klar.

Langweilig wird es aber – und das wiederum ist das Gute an diesem „Maskenball“ – dennoch nicht. Servieren doch die Staatskapelle unter der Leitung von Carlo Montanaro und das Sängerensemble einen musikalischen Leckerbissen allererster Güte. Wookyung Kim als Riccardo ist dabei nur einer von vielen Stars des Abends. Der in Dresden immer wieder gern gesehene Tenor brilliert auch in dieser Inszenierung in allen Facetten, singt kraftvoll mit dem Orchester oder voller Gefühl in der Arie mit Majorie Owens (alias Amelia). Und auch Owens beherrscht die lauten und leisen Töne ihrer Rolle aufs Feinste, während Marco Vratogna den Renato bisweilen zwar kraftvoll, an vielen Stellen aber allzu gequält interpretiert. Mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit dagegen singt Carolina Ullrich die Hosenrolle des Oscar. Glasklar und unaufgeregt singt sie sich durch die Koloraturen ihrer Rolle und erobert so das Premierenpublikum im Sturm. Verdis Musik, ebenso spannungsvoll interpretiert von der Sächsischen Staatskapelle, wirkt mit diesem starken Ensemble an den richtigen Stellen kämpferisch, erregt und ergreifend bis dramatisch – Gänsehaut inbegriffen. So bleibt der Abend als außergewöhnliches Klangerlebnis in bester Erinnerung.

Semperoper Dresden, wieder am 03./06./09./12. Oktober 2011

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Theater rund um die Welt

Internationales Festival in Dresden

Das Theater der jungen Generation (tjg.) ist in diesem Jahr Gastgeber für das Internationale Theaterfestival „plattform 11+“. Vom 15. bis zum 18. Juni werden sich dabei 13 Theater aus insgesamt zwölf Ländern in Dresden treffen.

„Plattform 11+“ ist ein europäisches Netzwerk, das sich dem Theater für Jugendliche zwischen 11 und 15 Jahren verschrieben hat. Jedes Jahr werden bei dem Theaterfestival neue Stücke aufgeführt, die in Kooperation zwischen zwei Ländern entstanden sind. So werden auch vom 15.-18.6. insgesamt neun Koproduktionen in Dresden zu sehen sein. 130 internationale Teilnehmer werden dabei am tjg. aufeinander treffen.

Eröffnet wird das Festival mit der Deutsch-Norwegischen Produktion „Ferne Fremde Liebe“ (15.6., 19 Uhr und 21 Uhr), für das das tjg. zusammen mit dem Brageteatret Drammen/Norwegen verantwortlich zeichnet. In dem Stück von Liv Heløe (Foto: PR/Oliver Killig) geht es um eine Liebe im Spannungsfeld zwischen Freundschaft und Fremde. Es stehen sowohl deutsche als auch norwegische Schauspieler auf der Bühne. Die Uraufführung war bereits am 21. Mai in Dresden, sechs Tage später wurde das Stück unter dem Originaltitel „Nar får du tenkt deg om“ auch in Drammen aufgeführt.

Linktipp: www.platform11plus.eu

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Von Drammen nach Dresden

Deutsch-Norwegisches Theater im tjg.

Im Theater der jungen Generation Dresden (tjg.) feierte gestern (21.5.) die deutsch-norwegische Koproduktion „Ferne Fremde Liebe“ (norwegischer Originaltitel: „Nar får du tenkt deg om“) Uraufführung. Das Theaterstück ist im Rahmen des internationalen Kinder- und Jugendtheaterfestivals „Projekt 11+“ entstanden und vereinte Schauspieler des tjg. und des Brageteatret Drammen auf der Dresdner Bühne.

Lange haben die norwegische Autorin Liv Heløe und tjg.-Dramaturgin Ina Klose für das gemeinsame Theaterprojekt nach einem geeigneten Sujet gesucht, das die Jugend in Norwegen und Deutschland anspricht und gleichfalls auf kulturelle Verknüpfungen beider Länder verweist. Und so erzählt „Ferne Fremde Liebe“ (Foto: PR/Klaus Gigga) nun die Geschichte zweier junger Frauen, die sich in der gleichen Zwickmühle befinden, obwohl sie mehrere Generationen voneinander trennen. Da ist Nina (wunderbar jugendlich-rebellisch: Isabell Giebeler), die mit dem geheimnisvollen Roma-Jungen Moreno (Gregor Wolf) verabredet ist und sich nicht traut, ihrer Mutter Hilde (Ines Prange) von der Begegnung mit dem Fremden zu erzählen. Und da ist Ninas Urgroßmutter Ruth, die im Sterben liegt und von ihrer Jugend in Norwegen träumt. Ruth (ganz stark gespielt von Line Heie Hallem) verliebte sich als junges Mädchen in den Deutschen Soldaten Werner (Gregor Wolf) – und beging im von der deutschen Armee besetzten Norwegen damit gleichsam Vaterlandsverrat.

Auf humorvolle Art entspinnt sich in dieser Doppelgeschichte – Regie führte Philippe Besson – schließlich ein Konflikt der modernen, westlichen Multi-Kulti-Welt, in der es häufig weder dem Einzelnen noch der oft nach alten Werten schreienden Gesellschaft gelingt, noch zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Dass sich der Konflikt der jungen Nina, die am Ende selbst nicht mehr weiß, ob Moreno Engel oder Teufel ist, in der Liebesgeschichte ihrer Urgroßmutter Ruth dabei gleichsam widerspiegelt, ist nicht nur ein gelungener bi-nationaler Kunstgriff der Autorin Liv Heløe, sondern macht auch einen Reiz dieser Inszenierung aus. Schließlich trifft die Anspielung auf das düsterste Kapitel deutsch-norwegischer Vergangenheit bis heute beide Länder tief ins Mark und wirft daher umso deutlicher Fragen über unser aller Handeln in der Gegenwart auf, deren Beantwortung am Ende nicht nur Norwegern und Deutschen schwer fallen dürfte. Vor der spiegelnd-funktionalen Bühne Yngvar Julin, auf der Schauspieler aus beiden Ländern eine überzeugende Vorstellung liefern, gedeiht diese Koproduktion somit zu einem ebenso spannenden wie nachhaltigen Theatererlebnis.

„Ferne Fremde Liebe“ am tjg., wieder am 23./24./25.5.2011

Linktipp: www.tjg-dresden.de

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Was Sie hier sehen ist Kleist

„Das Erdbeben in Chili“ am Staatsschauspiel

Armin Petras‘ Bühnenübertragung von Kleists tragischer Novelle „Das Erdbeben in Chili“ ist im Moment in einer ebenso rasanten wie emotional aufgeladenen Inszenierung im Kleinen Haus das Staatsschauspiels Dresden zu sehen. Zu ruhig rezitierten, einander und dem Publikum entgegengeworfen, geschrienen und gesungenen Passagen des Textes sieht der Zuschauer fast zwei Stunden lang, wie die Darsteller sich abarbeiten – an den Kulissen, dem Text und sich selbst.

So lässt Petras die Naturkatastrophe von seinen Darstellern mit Hilfe großer Styroporplatten nachstellen, bis das Bühnenbild von Natascha von Steiger mit Trümmern übersät ist. Eine weitere interessante inszenatorische Idee sind die selbstgedrehten Videoclips der Schauspieler, die ihre ganz persönliche Definition von Glück darstellen und vor deren Hintergrund die folgende menschliche Katastrophe umso niederschmetternder wirkt. Eigentümlich unter die Haut geht auch Christian Friedels gesungene Interpretation von „Purple Rain“, die das kurze Liebesglück des tragischen Liebespaares untermalt.

Matti Krause und Anne Müller als Jeronimo und Josephe wirken vor allem mit ihrer drastischen körperlichen Performance, die ganz ohne Dialoge auskommt. Auch Annika Schilling und Christian Friedel als zweites Bühnenpaar und Wolfgang Micheler als Erzähler überzeugen bei der atemlosen Hatz durch das schicksalhafte Geschehen.

Es wird viel gerannt, geturnt und getanzt und am Ende der Aufführung sind nicht nur die Schauspieler zerschunden und lädiert. Auch die Zuschauer wirkten verstört in der besten aller möglichen Bedeutungen. Petras Inszenierung zeigt, was modernes Theater heute sein kann. Ironisch gebrochen und ernsthaft, körperlich und emotional anstrengend. Und sehr, sehr aufregend.

Annett Baumgarten

Theatertipp: „Das Erdbeben in Chili“ wieder am 17.5., 13.6. und 17.6. am Kleinen Haus des Staatsschauspiels Dresden.

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„Verstummte Stimmen“ an der Semperoper

Dresdner Theater erinnern an Nazi-Zeit

An der Dresdner Semperoper und dem Staatsschauspiel wird am Sonntag (15. Mai) eine geschichtsträchtige Ausstellung zum einem bislang in der Öffentlichkeit fast unerwähnt gebliebenen Thema eröffnet. Sie widmet sich der „Säuberung“ an deutschen Opernhäusern und Theatern im Nationalsozialismus. Die Ausstellung namens „Verstummte Stimmen“ nimmt dabei sowohl auf Gesamtdeutschland als auch speziell auf Dresden Bezug. Sie wird bis zum 13. Juli am Staatsschauspiel und an der Oper zu sehen sein. Der Eintritt ist frei.

Historiker Hannes Heer, Musikjournalist Jürgen Kesting und Gestalter Peter Schmidt realisierten diese Ausstellung seit 2006 bereits an den Staatsopern in Hamburg, Berlin, Stuttgart und Darmstadt. Gezeigt wurden dort – und nun auch in Dresden – das Schicksal von 44 prominenten Künstlern. Ergänzt wird das Ganze von einer lokalen Fallstudie, in der die Geschichte der Vetreibung an den Dresdner Staatstheatern rekonstruiert wird. Diese begann am 7. März 1933 mit einem spektakulären Akt auf der Bühne der Semperoper, als der Schauspieler Alexis Posse deren Leitung für abgesetzt erklärte und als kommissarischer Generalintendant die vollziehende Gewalt an beiden Häusern übernahm. Träger der Aktion war die schon Ende 1930 von Posse und Franz Heger, einem Maskenbildner der Semperoper, gegründete »Theaterfachgruppe der NSDAP«, die sich die Befreiung der Staatstheater von der »Beherrschung durch Fremdrassige« zum Ziel gesetzt hatte und im März 1933 mindestens 275 Mitglieder zählte.

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